„Wir stellen gesellschaftsrelevante Fragen“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Sabine Zinn-Thomas, die seit September 2017 die Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart leitet und viel zu tun hat.

Die Kuratorin Helena Gand, der Leiter der Volkskunde- Abteilung, Dr. Markus Speidel, der Maskenschnitzer Herr Can und Prof. Dr. Sabine Zinn- Thomas bei der Maskenübergabe am 17. Januar 2018.

Momente-Redakteurin Meike Habicht: Haben Sie sich zum Start gleich ein großes Projekt vorgenommen?

Prof. Dr. Sabine Zinn-Thomas: Ich recherchiere gerade zur Geschichte der Landesstelle, denn wir werden 2023 100 Jahre alt und da möchte ich einen Jubiläumsband herausbringen. Als Einstieg ist das gut, weil es darum gehen wird, was sich in dieser Zeit für eine wissenschaftliche Entwicklung ereignet hat. Aktuell führe ich Interviews mit meinen Vorgängern und früheren Mitarbeitern - auch darüber, wie sie in die Zukunft blicken.

Organisatorisch gehören Sie zur Volkskunde-Abteilung im Landesmuseum Württemberg und haben trotzdem eine eigene Sammlung – wie teilen Sie sich das?

Ganz einfach: Die Museumskollegen sammeln materiell und wir sammeln immateriell, damit ist schon alles geklärt. Dabei möchten wir gemeinsame Wege gehen. Das materiell Gesammelte versuchen wir seitens der Landesstelle immateriell zu ergänzen. Wir haben gerade schon so einen Fall: Herr Can, ein Muslim türkischer Herkunft, lebt seit Jahrzehnten im Schwarzwald und schnitzt Fastnachtsmasken. Er wurde bereits in den 1970er-Jahren interviewt und hat den Museumskollegen jetzt einige seiner Masken für die Sammlung übergeben. Ich möchte das begleiten, indem ich mit ihm ein Gespräch führe, vielleicht auch einen Dokumentarfilm drehe.

Zu welchen weiteren Themen können Sie sich vorstellen, immateriell zu sammeln?

Ein Interessengebiet, was ich in die Sammlung ausweiten möchte, ist „Mobilitäten“. Das ist eine der Metaphern, die unsere Gegenwart am stärksten beschreibt. Früher hielt man die Sesshaftigkeit für den Normalfall. Die Einheimischen, das waren die, die über mehrere Generationen am Ort lebten. Und all die anderen, das waren die Benachteiligten, die Ausnahmen, die umziehen mussten oder vertrieben wurden. Inzwischen ist die Mobilität die übliche Denkfigur. Unter der Grundannahme, dass die Menschen eigentlich alle mobil sind und die Sesshaftigkeit eine Ausnahme ist, wird das mit der Zuwanderung ein ganz anderes Thema! Und für Stuttgart und Württemberg ist Mobilität hochgradig aktuell – Verkehrskollaps, Feinstaub, Stuttgart 21 und die landschaftsverändernde Trasse nach Ulm … dem würde ich gerne nachgehen.

Das sind ganz neue Themen für eine Wissenschaft – und für eine Landesstelle –, die sich früher vor allem mit Brauchtum und Volksdichtung beschäftigt hat.

Es ist ja so, dass unser Fach (auch seine Akademisierung) aus einer Laienbewegung entstanden ist. Heimat- und Geschichtsvereine, die aktiv ihre Lokalgeschichte aufgearbeitet haben, das waren früher hier auch die meisten Nutzer. Das sind alles sehr engagierte Leute, die vor Ort wertvolle Arbeit leisten. Aber gerade was unser Fach betrifft, sind sie auf dem Stand der 1960erund 1970er-Jahre stehengeblieben. Unsere wissenschaftlichen Fragestellungen sind inzwischen ganz andere. Für uns steht nicht mehr der besondere Charakter einer Region im Zentrum, sondern wir forschen problemorientiert.

Was untersuchen Sie da?

Es ist eigentlich nur eine andere Perspektive, die man da einnimmt. Bei der Migration hatte man in der Vergangenheit immer die Vorstellung: Die Leute kommen von Kultur A in Kultur B und da muss irgendein Anpassungs- oder Integrationsprozess stattfinden. Inzwischen ist klar: Diese homogenen Kulturen sind sowieso Konstrukte. Wir fragen jetzt danach: Wer bezieht sich wann und warum auf Region? Wann wird Region zu einem wirkmächtigen Muster? Meistens hat es mit Inklusions- und Exklusionsprozessen zu tun: Ich beziehe mich dann auf meine badische oder württembergische oder schwäbische Identität, wenn ich mich gegenüber anderen abgrenzen möchte.

Das heißt, Sie sehen sich nicht als Sachwalterin einer bestimmten Kultur, die vom Verschwinden bedroht ist?

Wir setzen genau da an: Wir wissen, dass es den kulturellen Wandel gibt. Es geht uns nicht nur darum, den Wandel nachzuzeichnen, schließlich machen wir weder Geschichte noch Kulturgeschichte. Wir stellen gesellschaftsrelevante Fragen, die durch die Ethnowissenschaften eine bestimmte Richtung haben. Der Aspekt des Fremden spielt hier eine Rolle. Ich bin ja immer eine Fremde. Wenn ich jetzt in eine Fabrik zu Bosch oder zu Mercedes gehe, bin ich superfremd, einfach weil ich mich dort nicht auskenne und es nicht mein Milieu ist.

Die Landesstelle hat ein umfangreiches Archiv mit vielen verschiedenen Beständen. Haben Sie da schon einen Überblick?

Wir haben jede Menge Kisten mit Fotografien, die noch nicht richtig zugeordnet sind. Ein Teil der Fotos ist digitalisiert und über das Intranet des Landesmuseums greifbar; über LEO-BW sind die Ende des 19. Jahrhunderts gesammelten Konferenzaufsätze und die Sprachaufsätze auch im Internet. Ich war im vergangenen Dezember beim Zentrum für Populäre Kultur und Musik ZPKM (so heißt seit 2014 das „Deutsche Volksliedarchiv“) in Freiburg, denn wir dachten, wir haben deren Doubletten württembergischer Volkslieder. Aber es stellte sich heraus, dass wir vielleicht sogar Primärbelege haben, denn sie sind mit ganz anderen Signaturen versehen. Wir sind jetzt dabei, das abzugleichen. In Freiburg sind die Lieder schon alle digitalisiert worden; wenn wir Doubletten haben, brauchen wir das nicht zu tun. Aber wenn das hier in den Kisten jetzt ganz andere Lieder sind?

Wird das Archiv der Landesstelle denn für die Forschung genutzt?

Nur sehr bescheiden. Aber wir haben seit letztem Jahr im Rahmen der Landesinitiative „Kleine Fächer“ ein Kooperationsprojekt. Es heißt „Vernetzt lernen, forschen, vermitteln“ und verbindet die volkskundlichen Institute der Universitäten Freiburg und Tübingen und das Zentrum für Populäre Kultur und Musik mit den beiden Landesstellen und den Landesmuseen. Es geht darum, die Studierenden stärker an die Sammlungen heranzubringen und sie mit den Archivalien arbeiten zu lassen. Das aktuelle Thema heißt „Arbeitskulturen“. Das Projekt hat gerade erst begonnen und geht über drei Semester. Wir haben hier viel Material zu Arbeitersportvereinen, Fahrradvereinen oder Fotonachlässe. Inzwischen waren fünf Tübinger Studierende hier und haben recherchiert. Und da ich in Freiburg weiterhin Lehrverpflichtungen habe, kann ich das Archiv auch dort in meine Lehre einbauen, sodass es zunehmend genutzt werden wird.

Die Landesstelle ist ja eine öffentliche Einrichtung. Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Außenwirkung zu steigern?

Das ist für mich ein extrem wichtiges Thema und da möchte ich alles Mögliche nutzen, ob das jetzt Blogs sind oder Veranstaltungen. Wir gehören ja zum Landesmuseum und ich verstehe das als gemeinsamen Diskursraum. Wir wollen innerhalb des Hauses und im Veranstaltungsprogramm Themen aufgreifen, die gerade in der Gesellschaft da sind. Ob das jetzt dieses Heimatthema ist oder die Fahrradkultur in Stuttgart.

Haben Sie konkrete Pläne?

Eine Kollegin hat gerade im Nordschwarzwald zu einem Hof geforscht und dort Sachen über eine Heilerfamilie gefunden. Dazu planen wir im September 2018 eine Veranstaltung, weil es das Feld „alternative Heilmethoden“ berührt. Wir decken im Prinzip das ganze Alltagsleben ab und ich suche natürlich Themen, die sich über einen Vortrag, eine Podiumsdiskussion oder mal eine Filmvorführung transportieren lassen.

Das klingt, als ob sich die Aufgabe einer Landesstelle wandelt: Weg von einer Einrichtung, die das einheimische Volksleben erklärt, hin zu einer moderierenden Dienstleisterin.

Ich suche noch eine Marke, wofür wir stehen, denn ich möchte, dass wir als Landesstelle sichtbar werden. Auch was unseren Internetauftritt betrifft, erfinden wir das Rad gerade neu, parallel ist auch ein Flyer in Arbeit – ich habe einfach zu viele Baustellen … Apropos Baustelle: Wenn alles klappt, gibt es bald einen Durchbruch in mein Büro, das nur über das Treppenhaus erreichbar ist. Dann rücken wir in der Landesstelle als Team enger zusammen!

Daten und Fakten zur Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart:

Bibliothek mit 23.000 Bänden und 150 Periodika, erfasst im Südwestdeutschen Bibliotheksverbund; Volkskundliches Archiv mit Aufsatzsammlung, Flurnamenarchiv, Liedarchiv, Fotoarchiv sowie diversen Nachlässen und Zeitungsausschnittsammlungen. Informationen derzeit unter: www. landesmuseum-stuttgart.de > Museen und Institutionen 

Landesstelle für Volkskunde, Fruchtkasten (Postanschrift: Altes Schloss, Schillerplatz 6), 70173 Stuttgart, Sekretariat und Terminvereinbarung: 0711 89535323