Wie die Franzosen mit den Nachkommen ihrer Besatzungssoldaten umgingen
Die französische Regierung suchte 1945–49 gezielt nach Kindern, die von französischen Soldaten gezeugt wurden. Der Nachwuchs wurde registriert, untersucht und schließlich nach Frankreich zur Adoption gegeben.
Im Gegensatz zu den anderen Besatzungsmächten zeigte die Regierung in Paris größtes Interesse an den Kindern, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Frauen und von französischen Soldaten gezeugt wurden. Die Franzosen spürten die Kleinen in ihrer Zone auf, registrierten, untersuchten und begutachteten sie. Die Auserwählten wurden schließlich nach Frankreich oder nach Nordafrika verbracht, um sie zur Adoption freizugeben.
Am Nikolaustag des Jahres 1945 erging ein Befehl von General Pierre Koenig, dem Chef der Militärregierung der französischen Zone, demzufolge die deutschen Behörden unverzüglich alle Kinder zu melden hatten, die von einem Angehörigen der Vereinten Nationen abstammten. Diese frühe Bestandsaufnahme zielte darauf ab, alle „französischen“ Minderjährigen zu erfassen. Dazu zählten einerseits diejenigen Kinder aus Lothringen und aus dem Elsass, die seit der Besetzung durch die Wehrmacht aus politischen oder rassischen Gründen deportiert und „in einer deutschen Anstalt“ oder bei „politisch verlässlichen“ Adoptiveltern untergebracht worden waren. Diese Inventur galt überdies all jenen Kleinkindern, die eine Deutsche zur Mutter und einen Franzosen zum Vater hatten. Deren Erzeuger waren entweder französische Zwangsarbeiter, frühere Kriegsgefangene oder aber Soldaten der Ersten Französischen Armee. Letztere war im April 1945 mit mehr als einer halben Million Soldaten in Deutschland einmarschiert. Mit der dauerhaften Meldepflicht wollte die Militärregierung vor allem der Nachkommen ihrer Truppen habhaft werden: Von Weihnachten 1945 an kamen überall im Zonendeutschland die ersten Kinder der Besatzer auf die Welt.
Die französischen Besatzungskinder wurden zum Gegenstand einer permanenten öffentlichen Erhebung und Erörterung. Die Aufforderung, diese Neugeborenen unverzüglich anzuzeigen, wurde immer wieder auf Plakaten angemahnt. Überdies verließen sich die Rechercheoffiziere nicht nur auf die Listen der deutschen Standes- und Jugendämter, sondern sie überwachten persönlich Hebammen und Geburtskliniken vor Ort und schreckten nicht einmal davor zurück, Schwangere im Wochenbett aufzusuchen und peinlich nach einem eventuell französischen Vater zu befragen. Ein derart hoher öffentlicher Fahndungsdruck musste Unmut, Ängste und Gerüchte schüren. In der Bevölkerung wurde kolportiert, die Besatzungsmacht führe eine Aktion „Kinderklau“ im Schilde, was viele Mütter dazu verleitete, französische Erzeuger zu verheimlichen, denn die große Mehrzahl wollte ihr Kind allem Unbill der Nachkriegszeit zum Trotz behalten.
Aus Pariser Perspektive waren diese „Bankerte“, wie sie in der Bevölkerung beschimpft wurden, französische Staatsbürger, weswegen man sie juristisch und politisch für die Grande Nation beanspruchte. Während die Besatzungskinder im Vierzonendeutschland als Kinder des Feindes verachtet wurden, stellten sie für die französischen Politiker und Militärs ein zentrales, ja ein „lebenswichtiges“ Anliegen dar. Für sie zählten die Kleinen zu den verschleppten, ihrer französischen Heimat entfremdeten Opfern des Krieges. Im amtlichen Sprachgebrauch war denn auch stets davon die Rede, dass diese Babys „repatriiert“ werden müssten: „Retour en France“! – obschon sie bislang nur die Luft der französischen Zone geatmet hatten. Frankreich meldete ein außerordentlich großes Interesse an der „Einfuhr“ dieser Kinder an, weil man sich von ihnen eine Stärkung der durch die beiden Weltkriege geschwächten Nation erwartete: Justament die Sprösslinge des Erbfeindes von jenseits des Rheines, eigentlich mi-français und halb-deutsch, sollten in den noblen Dienst der französischen Bevölkerungspolitik gestellt werden.
Tatsächlich errichtete die Militärregierung einen leistungsfähigen Apparat, dessen Aufgabe es zuvörderst war, die Mütter zu bewegen, ihre Neugeborenen in die Obhut des französischen Staates zu übergeben – ein kleiner bürokratischer Akt vor einem französischen Offiziellen, der nur wenige Minuten in Anspruch nahm. Die zumeist sehr jungen und unerfahrenen Mütter hegten in der Not der unmittelbaren Nachkriegsjahre die Hoffnung, dass es ihrem Kind in Frankreich besser ergehen würde als in der darbenden deutschen Rationengesellschaft. Nachdem das Kind amtlich auf- und abgegeben war, wurde es vorübergehend in einem deutschen Kinderheim untergebracht. Von nun an musste es ein strenges Auswahlverfahren durchlaufen.
Die Begutachtungen fanden in der erstklassig und großzügig ausgestatteten französischen Pouponnière im Schwarzwälder Luftkurort Nordrach, östlich von Offenburg, statt. Pro Monat betreute man dort durchschnittlich 75 Säuglinge, zu Spitzenzeiten sogar bis zu einhundert. Die kleinen Schützlinge wurden in diesem Haus liebevoll betreut und gepflegt – jedoch nur diejenigen, die nicht zu einer Belastung für Frankreich geraten konnten: „Ne doivent aller en France que ceux qui sont capables de remplir leur rôle de français.“ Über den Rhein durften also nur diejenigen gelangen, die auch die Gewähr dafür boten, dass sie künftig ihre Rolle als Franzosen wahrzunehmen in der Lage waren.
Die Leiterin des französischen Heimes, Dr. Marie Helmer, erschien gerne mit einer Waage und bewertete die Kleinen ausschließlich nach ihrem Gewicht. Säuglinge, die sie für zu leicht befand, wies die Ärztin zurück. Babys, bei denen Geschlechtskrankheiten wie eine ererbte Syphilis diagnostiziert wurde, sonderte man ebenso aus wie Mädchen und Jungen mit mutmaßlich dauerhaften physischen und psychischen Problemen; Kinder, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben waren oder die an Missbildungen oder Behinderungen litten wie zum Beispiel Taubstumme, hatten ebenfalls keine Chance, jemals nach Frankreich zu gelangen. Sie wurden an deutsche Krankenhäuser oder Kinderheime zurückgeschickt. Und zwar nicht unter Verweis auf das vermeintliche gesundheitliche Manko, sondern mit dem nationalen Argument, dass ihre französische Abstammung nicht hinreichend nachgewiesen werden könne.
Die besiegten Deutschen wurden so gleich nach Kriegsende zu Zeugen eines zweifelhaften Auswahlverfahrens, das die nationale Qualität und Würde dieser Kinder nach ihrem aktuellen Lebendgewicht taxierte. Die Ärztin Marie Helmer behielt sich auf diese Weise das Recht vor zu definieren, wer ein echter Franzose sein durfte: Sie betrieb eine rigorose und zugleich eugenisch-biologistisch imprägnierte Politik der Auslese.
Am Ende dieses Auswahlprozesses kamen daher nur vergleichsweise wenige Kinder in den Genuss der Gratifikationen eines „Enfant d’État“, eines Kindes des französischen Staates, das schließlich über die Grenze expediert und an adoptionswillige Eltern weitervermittelt werden konnte. Agenturen in Paris verteilten die jungen Kandidaten an gut situierte Familien. Zuvor aber waren die Staatskinder in einem aufwendigen bürokratischen Verfahren vollends französisiert worden. Sie hatten neue Vornamen und den Nachnamen ihrer neuen Familie erhalten; französische Behörden stellten alle persönlichen Dokumente neu aus. Nur die Angaben über ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort blieben unverändert – sie verweisen bis heute auf ihre Herkunft.
Im Rahmen dieses „baby drain“ dürften etwa 1.500 Kinder die Seite gewechselt haben, mithin weit weniger als zehn Prozent all jener Kinder, über deren Personalakten wir heute noch verfügen. Nach dem Ende einer sechzig Jahre andauernden Sperrfrist ist es Historikern ebenso wie den mehrfach registrierten Besatzungskindern nun möglich, die Unterlagen der zuständigen Abteilung für Deportierte der französischen Militärregierung einzusehen. Die Akten lagerten früher in Colmar und sind heute im Centre des Archives Diplomatiques in Paris-La Courneuve einsehbar. Dort sind die persönlichen Dossiers von insgesamt rund 17.000 französischen Besatzungskindern überliefert. Sie enthalten nicht nur die Dokumente französischer Dienststellen, sondern darüber hinaus auch die Unterlagen deutscher Behörden – und zwar für diejenigen Kinder, die über die Drehscheibe der französischen Pouponnières verschickt wurden, die die Militärregierung im badischen Nordrach, zeitweilig auch in Appenthal und Bad Dürkheim in Rheinland- Pfalz sowie im württembergischen Tübingen eingerichtet hatte. 1952 war es den Franzosen nämlich in einer Nachtund- Nebel-Aktion gelungen, auch die Akten der adoptierten Kinder, die noch in deutschen Registraturen verblieben waren, nach Frankreich zu schaffen. Nach offizieller Lesart geschah dies, um die dortigen Dossiers zu vervollständigen, de facto jedoch, um auch die letzten Spuren zu den Wurzeln der „Repatriierten“ zu verschleiern, ja endgültig zu tilgen – administrativ und juristisch, aber auch physisch und psychisch.
Ein Beitrag von Rainer Gries in Momente 1|2015.