Leseprobe Momente 1|2017
Wohltätigkeit ist Chefsache. Die „Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins“ kümmerte sich seit 1817 um Fürsorge und Gesundheitspflege in ganz Württemberg

Das Armenwesen im Königreich Württemberg musste zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu organisiert werden. Bis 1806 war die öffentliche Armenversorgung traditionell auf kommunaler Ebene verwaltet gewesen. In Folge der Mediatisierung und Säkularisation vermischten sich unterschiedlichste Organisationsstrukturen und Traditionen der Armenfürsorge. Ein königlicher Erlass 1811 verlagerte schließlich die Entscheidungshoheit über Zuwendungen an Bedürftige von der kommunalen auf die staatliche Gewalt.

Ausgerechnet in diese schwierige Phase der notwendigen Neuorientierung des Armenwesens fiel die Teuerung und Hungerkrise von 1816/17. Sie bedeutete einen Anstieg der Armenlast, deren Bewältigung die Gemeinden zunehmend vor Probleme stellte. 1819 war in Württemberg im Durchschnitt jede 21. bis 22. Person arm und fiel der öffentlichen Fürsorge anheim. Für viele Menschen war Betteln der einzige Weg, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die vielerorts umherziehenden Bettler, darunter auch Kinder, waren oft Ortsfremde ohne familiäres Netzwerk. Der Umgang mit ihnen stellte Städte und Dörfer vor neue Herausforderungen. Eine gewisse Ohnmacht verrät ein Schreiben des Stuttgarter Lokalwohltätigkeitsvereins aus dem Jahr 1817 an Königin Katharina. Der Brief verspricht „eine Genaue Darstellung des Zustands der Armen eines jeden Zugetheilten Orts …, um das Höchste Befremden über die Große Zahl der aus dem AmtsOberAmt dahier aufgegriffenen Bettler zu eröffnen“. Der Lokalwohltätigkeitsverein regt an, „über die Mittel zu 

berathschlagen wie diesem Unfug gesteuert werden könne“. Gleichzeitig räumt er ein, „die festgesezten Strafen … scheinen aber nicht zweckmäßig oder zureichend, weil sie dem Übel nicht abhelfen, und besonders die Arbeitsscheue sich den arrest gerne gefallen laßen, um indeßen gefüttert zu werden“.

Die Regierung war zum Handeln gezwungen. Um die Armenversorgung koordinieren zu können, rief Königin Katharina die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Stuttgart ins Leben. Und damit die Aufgaben dieser zentralen Stelle schnell in die einzelnen Bezirke delegiert werden konnten, sollten landesweit Bezirks- und Lokalwohltätigkeitsvereine bis auf Gemeindeebene eingerichtet werden. So wollte die Zentralleitung nicht nur die aktuelle Hungersnot bekämpfen, sondern ein dauerhaftes und stabiles Netzwerk zur Versorgung der Armen im gesamten Königreich aufbauen.

Die konkrete Stellung der Zentralleitung im Staatsgefüge und deren Aufgaben blieben vage. Obwohl die Regierung ihr besonders in Notzeiten eine eigene Entscheidungsgewalt übertrug, fehlte der Zentralleitung jegliche Weisungsbefugnis – etwa um ihre Interessen gegenüber den Ober- und Unterämtern durchsetzen zu können. Dank ihrer Anpassungsfähigkeit konnte die Zentralleitung aber flexibel auf Notstände reagieren und sich in der Wohlfahrtspflege so unentbehrlich machen, dass ihre Nachfolgeinstitutionen selbst zwei Weltkriege und das nationalsozialistische Regime überstanden. 1972 wurde sie schließlich eine Stiftung des bürgerlichen Rechts und engagiert sich seither als Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg vor allem in der Betreuung und Pflege von alten Menschen.

Schnitt und Grundriss der „ArmenkochAnstalts Küche“ in Ulm, um 1817. Die Kesselbeschriftungen lauten: A und B Mischungskessel zu 500 bzw. 600 Portionen à 1 ½ Pfund, C. Kessel zu Erbsen und Gerste à 475 Portionen, D. Kessel zu Kartoffeln, à 450 Po
Schnitt und Grundriss der „ArmenkochAnstalts Küche“ in Ulm, um 1817. Die Kesselbeschriftungen lauten: A und B Mischungskessel zu 500 bzw. 600 Portionen à 1 ½ Pfund, C. Kessel zu Erbsen und Gerste à 475 Portionen, D. Kessel zu Kartoffeln, à 450 Portionen, E. Dampfkessel mit Sicherheitsventil, F. Dampfkessel zu 60 Pfund Knochen, G. und H. Wurstkessel, I. Kessel mit heißem Wasser. (Foto: StAL E 173/I Bü 358)

Die Versorgung der Armen mit nahrhaften Mahlzeiten und Getränken war eines der Hauptanliegen der Zentralleitung, bei Krankheit, in Notzeiten, aber auch als präventive Grundversorgung. Und das Instrument der Wahl, um eine dauerhafte und lückenlose Verköstigung zu garantieren, waren die öffentlichen Suppenanstalten.

Eine dieser Speiseanstalten für Mittellose befand sich in Stuttgart. Als sie im Krisenjahr 1817 dem Andrang der Hungrigen nicht mehr standhalten konnte, bat der Lokalwohltätigkeitsverein Königin Katharina um Hilfe. Als Vorbild sollten Großküchen, wie sie in England betrieben wurden oder bestehende Armenspeisungsanstalten wie etwa in Ulm, dienen. Katharina und ihr Ehegatte Wilhelm I. spendeten insgesamt 1.200 Gulden aus ihrem Privatvermögen für den Ausbau der Suppenanstalten, und das persönliche Engagement der Königin ging noch deutlich darüber hinaus: Sie kümmerte sich um die Anschaffung von sogenanntem „Knochen-Gelee“, suchte alternative Heizmethoden, bemühte sich um Geschirr und veranlasste die Errichtung eines Gebäudes zur Lagerung und Trocknung von Kartoffeln.

Die Suppenküche in Stuttgart wurde in den kommenden Jahren eine feste Institution der Wohlfahrtspflege: Gesunde Bedürftige erhielten 1842 an Wochen- und Feiertagen von 11 bis 13 Uhr Suppe mit Gemüse, manches Mal mit einem Stück Brot. Kranke Mittellose und Wöchnerinnen bekamen 1 ½ Portionen der Suppe mit Fleisch angereichert. Zur Krankenspeise wurde Wein gereicht, ab 1880 auch Milch. Die Mahlzeiten konnten vor Ort in einer beheizbaren Kammer verzehrt oder im eigenen Geschirr mitgenommen werden. Die Nachfrage war beachtlich: In den Stuttgarter Speiseanstalten wurden zwischen 1806 und 1914 weit über 12 Millionen Portionen gewöhnliche Speise und etwa 850.000 Portionen Krankenspeise ausgegeben.

Was sich in der Residenzstadt bewährt hatte, konnte die Zentralleitung allerdings nur begrenzt im ganzen Königreich umsetzen. Zwar entstanden während großer Krisen überall Suppenküchen; sie verschwanden aber genauso schnell wieder, wenn die allgemeine Not vorüber war. Die Argumente der Oberämter gegen den durchgehenden Betrieb von Armenspeisungsanstalten reichten von „Vorurtheilen gegen alle öffentlich zubereiteten Suppen“, über fehlende finanzielle Mittel bis hin zu der Befürchtung, dass diese Einrichtungen bei den Armen nur der „Trägheit und Arbeitsscheue Vorschub leisten“ würden. Dass es aber doch funktionieren konnte, zeigen die Einrichtungen in Neukirch, Rottenburg, Crailsheim, Winnenden und Ludwigsburg, welche sich dauerhaft etablierten.

Zeichnung vom Kopf eines Cholerakranken aus den 1860er-Jahren. (Foto: StAL E 162 I Bü 1977)
Zeichnung vom Kopf eines Cholerakranken aus den 1860er-Jahren. (Foto: StAL E 162 I Bü 1977)

Die Zentralleitung hatte auch eine immer wiederkehrende Bedrohung aller Teile der Bevölkerung im Blick: die zeitgenössisch als „asiatische Brechruhr“ betitelte Cholera. Die bakterielle Infektion – häufig durch verunreinigtes Trinkwasser verbreitet – führt im Falle einer Erkrankung durch den hohen Flüssigkeitsverlust schnell zum Kreislaufversagen. Besonders für Arme mit schlechter Grundkonstitution ist – bis heute – die Cholera in kürzester Zeit tödlich.

Um einer Epidemie begegnen zu können, kümmerte sich die Zentralleitung vor allem um allgemeine präventive Maßnahmen und speziell um die Versorgung der Armen – vor der Entdeckung des Bakteriums und ohne moderne Trinkwasserversorgung war mehr nicht möglich. Auch hier spielten die 

Suppenanstalten wieder eine zentrale Rolle: Nahrhafte Speisen sollten die physische Konstitution stärken und Vorerkrankungen vermeiden. Zusätzlich kümmerte sich die Zentralleitung darum, für den Fall einer Choleraepidemie ausreichend Brennholz, Kleidung und Bettzeug vorzuhalten. Gelegentlich vermittelte sie sogar Armen bessere Wohnungen, um angespannte Wohnsituationen zu entzerren und die hygienischen Verhältnisse zu verbessern.

Damit auch der letzte Winkel Württembergs von den Maßnahmen profitieren konnte, sollten auf Erlass der Zentralleitung in allen Ämtern spezielle Gesundheitskommissionen gegründet werden, welche ein Netzwerk zur landesweiten Kommunikation der Hilfsmaßnahmen bilden sollten. In Stuttgart fand sich diese Kommission unverzüglich zusammen und plante ein Notfallprogramm, das umgesetzt werden sollte, sobald sich die Cholera der Stadt auf 40 Stunden genähert hätte. Neben einem Trakt des Katharinenhospitals sollten die alte Hofwache, das Lazarett, die Hofpflege und das Siechenhaus zu speziellen Choleraspitälern umfunktioniert werden. Insgesamt stellten sie 180 Krankenbetten mit heugefüllten Matratzen, Kopfkissen und Hemden bereit, samt weiterer Pflegeutensilien wie beispielsweise Flanell-Bettflaschen.

Die Zentralleitung hatte dabei den Anspruch, gemeinsam mit dem Königlichen Medizinalkollegium eine zentrale Anlaufstelle zu sein. Man bot Handlungsanweisungen für die Ärzte und das Pflegepersonal an und stand in engem Kontakt mit betroffenen Regionen, die Informationsmaterial schickten – beispielsweise kam aus Innsbruck eine Anweisung für Ärzte. Aus Bayern erhielten sie Berichte über den Ausbruch der Cholera in München sowie die Empfehlung, zur Behandlung von Erkrankten sogenannte Eiskeller einzusetzen.

Aber nicht nur bei akuten Katastrophen half die Zentralleitung der ärmeren Bevölkerung. Auch bei landesweiten sozialmedizinischen Problemen fungierte sie als Exekutive der Regierung. So etwa bei der Bekämpfung der hohen Säuglingssterblichkeit, die derart gravierende Ausmaße hatte, dass in den 1860er-Jahren „Württemberg noch berüchtigt durch die erschreckende Höhe seiner Säuglingssterblichkeit war, die alle anderen Staaten Deutschlands überragte und auf der Welt höchstens noch von Russland übertroffen wurde“.

Die Zentralleitung klärte die Bevölkerung mit Flugblättern darüber auf, wie insbesondere die hohe Sterblichkeit in den Sommermonaten vermieden werden könne. Die Mütter sollten ihre Kinder möglichst selbst stillen und nicht zu warm einpacken. Fütterten sie leicht verderbliche Kuhmilch, sollten sie die Milch abkochen, kühl aufbewahren sowie Flaschen und Sauger sauber halten – Hygieneregeln, die heute selbstverständlich sind. Die Zentralleitung setzte sich zudem für die Einführung der sogenannten Wochenpflege nach dem Vorbild im Großherzogtum Baden ein. Spezialisierte Wochenpflegerinnen sollten Müttern der Unterschicht in den ersten Wochen nach der Geburt die oft fehlenden Ruhezeiten ermöglichen, indem sie den Haushalt übernahmen und die älteren Kinder versorgten. Ab 1899 konnten sich Frauen aus dem ganzen Land in der Königlichen Landeshebammenschule in Stuttgart zu Wochenwärterinnen ausbilden lassen. Die sechswöchigen Kurse waren unentgeltlich, allerdings mussten die Teilnehmerinnen Kost und Logis selbst bezahlen.

Die Übersichtskarte zur Säuglingssterblichkeit in Württemberg von 1846 – 56 zeigt ein erschütterndes Gefälle. In einigen Oberämtern überlebte jedes zweite Kleinkind die Säuglingszeit nicht. Die Farbskala zählt in Fünferschritten von 45 – 52
Die Übersichtskarte zur Säuglingssterblichkeit in Württemberg von 1846 – 56 zeigt ein erschütterndes Gefälle. In einigen Oberämtern überlebte jedes zweite Kleinkind die Säuglingszeit nicht. Die Farbskala zählt in Fünferschritten von 45 – 52 (dunkelblau) bis 23 – 24 (weiß) die Säuglinge, die von 100 Lebendgeborenen während der ersten 12 Monate starben.(Foto: StAL E 191 Bü 4457)

Die Zentralleitung sah ihre Aufgabe darin, „auf die Wichtigkeit der Wochenpflege aufmerksam zu machen, zur Aufstellung von Pflegerinnen Anregung und Aufforderung zu geben u. die Ausbildung von solchen zu vermitteln“. Sie unterstützte außerdem die Aufenthaltskosten. Die Ämter reagierten allerdings verhalten auf die Bemühungen, eine Wöchnerinnenpflege zu etablieren und so wurden zunächst nur sehr wenige Frauen zur Ausbildung nach Stuttgart entsandt. Man begründete das geringe Interesse damit, dass die finanziellen Mittel fehlten und dass es keine geeigneten jungen Frauen in den Gemeinden gebe. Anders in Esslingen: Hier wurde sogar – finanziell unterstützt durch die Zentralleitung – ein eigener Wöchnerinnenfürsorge-Verein gegründet, der zwischen 1908 und 1909 66 Pflegestellen übernahm, in denen „zum Teil so traurige Verhältnisse herrschten, daß wir … vielfach die Familien von Tag zu Tag buchstäblich über Wasser zu halten hatten, da es am Nötigsten fehlte“.

Beispiele für das Bemühen der Zentralleitung um ein stabiles Gesundheitswesen im Königreich Württemberg ließen sich beliebig fortführen – ob bei der Bekämpfung der Tuberkulose, bei der Förderung von Menschen mit Behinderungen und deren Unterbringung in entsprechenden Einrichtungen, bei der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse armer Gemeinden oder bei den ersten Gehversuchen in der institutionalisierten Behandlung der Alkoholsucht. Die Zentralleitung übernahm in Notzeiten die Initiative und hatte in staatlichem Auftrag die Gesundheitsfürsorge und das Wohl der gesamten Bevölkerung im Blick.

Ein Beitrag von Beate Dettinger in Momente 1|2017.