Das Interreg-Projekt „Archivum Rhenanum“ stellt Geschichtsquellen im Internet zur Verfügung
In den deutschen und französischen Archiven am Oberrhein werden singuläre und bis weit in das Mittelalter zurückreichende handschriftliche Unterlagen aufbewahrt. Sie erzählen von der gemeinsamen Geschichte der Menschen in der Region. Sowohl „hohe Politik“ wie auch familiär-private Beziehungen spiegeln sich in den Dokumenten, die das Gedächtnis der Region bilden und das Rückgrat jeder touristischen und kulturellen Präsentation und Vermarktung sind. Wollte man bislang die gemeinsame Geschichte aufspüren, gab es erhebliche Barrieren: Es war erforderlich, von Archiv zu Archiv zu reisen, da die Quellen über die ganze Region verteilt aufbewahrt werden. Dabei galt es oft, Sprachbarrieren zu überwinden – zusätzlich zur schwierigen Lesbarkeit der alten Schrift. Besonders gravierend wirkt, dass das Kulturgut über Jahrhunderte auf die beiden Staaten Deutschland und Frankreich verteilt war: In den Köpfen der Historiker und vieler Menschen der Oberrheinregion entstanden Grenzen, die im historischen Rückblick kaum oder nie existierten.
Die Forschung wird künftig leichter, denn die Sammlungen werden nun digitalisiert und für die breite Öffentlichkeit zweisprachig im Internet zugänglich gemacht. Schon 1935 war der französische Historiker Lucien Febvre in seinem Buch „Le Rhin. Problèmes d’histoire et d’économie“ der Auffassung: Der Rhein bilde keine Grenze, sondern sei eine Verbindungslinie zwischen den Landschaften links und rechts des Flusses. Getreu diesem Motto möchte das gemeinsam entwickelte, zweisprachige und auch inhaltlich grenzüberschreitende Internetportal die genannten Hindernisse überwinden. Es tut das gemeinsam mit einem offenen Netzwerk von Archiven, das unterstützt wird von historischen und landeskundlichen Experten, Einrichtungen und Vereinen. Aufgrund der wechselvollen Geschichte der Region war eine grenzüberschreitende „Wiederherstellung“ der zerstreuten Handschriften bisher ein Desiderat.
Das Interreg IVa-Projekt „Grenzüberschreitendes Netzwerk digitaler Geschichtsquellen – Archive als Gedächtnisse der historisch gewachsenen Landschaft Oberrhein“ oder kurz „Archivum Rhenanum“ schafft als gemeinsames Unternehmen französischer und deutscher Archive eine Plattform, um die nationalen Grenzen der Archivbestände zu überwinden und diese virtuell zusammenzuführen.
Zu den vorrangigen Projektzielen zählt die umfangreiche Digitalisierung und Verzeichnung von mittelalterlich-frühneuzeitlichen Quellen und Archivbeständen mit grenzüberschreitenden Bezügen. Dazu gehören beispielsweise deutschsprachige Archivalien der vorderösterreichischen Regierung Ensisheim (heute in Colmar) oder der Landvogtei Hagenau (heute in Straßburg) sowie von Urkundenbeständen und Protokollserien des Stadtarchivs Speyer aus reichsstädtischer Zeit.
Gerade das Generallandesarchiv Karlsruhesteht beispielhaft für die Verschränkung der historischen Landschaften am Oberrhein. Aus seiner reichen Überlieferung wurden deshalb unter anderem die Urkunden der Hoch- und Domstifte Basel, Speyer und Straßburg ausgewählt. Allein im Generallandesarchiv werden im Projektzeitraum mehr als 15.000 Urkunden erstmals online als Digitalisate mit Kurzregesten präsentiert. Aber auch Kommunalarchive wie das Stadtarchiv Freiburg tragen durch die Erfassung jener Urkundenbestände, die im Zusammenhang mit der vorderösterreichischen Herrschaft stehen und somit inhaltlich auch das Elsass betreffen (ca. 1.000 Urkunden), wesentlich dazu bei, dass der Oberrhein nicht nur territorial zusammenwächst, sondern auch im Geschichtsbewusstsein der dort lebenden Menschen. Bei diesem „Retrokonversion“ genannten Prozess werden die bisher nur auf Karteikarten vorliegenden Urkundenregesten (kurze Inhaltsangaben) manuell in eine Datenbank übertragen.
Das zweisprachige Internetportal www.archivum-rhenanum.eu geht in der ersten Jahreshälfte 2014 online. Bereits verfügbar ist ein deutsches sowie ein französisches „Weblog“ unter archives.hypotheses.org. Verschiedene Anwendungen der sozialen Medien (Facebook: www.facebook.com/ArchivumRhenanum; Twitter: @ARhenanum) ergänzen das Angebot. Das Projekt ist bewusst offen angelegt. Es ist ein Angebot an große und kleine Archive, aber auch an verwandte Einrichtungen, an Landeshistoriker, Studierende und Heimatforscher, an der „Grenzüberschreitung“ teilzunehmen.
Eine Ausweitung von „Archivum Rhenanum“ auf spätere Zeiträume, das heißt bis zu den großen deutsch-französischen Konflikten im 19. und 20. Jahrhundert, ist vorgesehen. Dies wäre eine wichtige Ergänzung, um die Geschichte des Oberrheins mit all ihren Schwierigkeiten und „Verdrängungen“ abzubilden und zugänglich zu machen.
Ein Beitrag von Hans-Peter Widmann und Joachim Kemper in Momente 2|2014.
Dr. Hans-Peter Widmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stadtarchivs Freiburg und Projektleiter von „Archivum Rhenanum“. Dr. Joachim Kemper ist in Speyer Leiter der Abteilung Kulturelles Erbe und des Stadtarchivs.