Leseprobe Momente 2|2017
Der Einband besitzt Schließen und Buckel aus Messing und ihn schmückt ein Muster aus Streicheisenlinien und Blindstempeln. Zum Einprägen mussten die Stempelwerkzeuge auf die richtige Temperatur erhitzt und mit gleichmäßigem Druck auf das feuchte Lede
Der Einband besitzt Schließen und Buckel aus Messing und ihn schmückt ein Muster aus Streicheisenlinien und Blindstempeln. Zum Einprägen mussten die Stempelwerkzeuge auf die richtige Temperatur erhitzt und mit gleichmäßigem Druck auf das feuchte Leder gepresst werden. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Freiburg; Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut)

Indizienbeweis mit Einbandstempeln

Was ein Wiener Buchbinder mit der frühen Geschichte der Universität Freiburg zu tun hat

„Never judge a book by it’s cover!“ – „Beurteile ein Buch nicht nach seinem Einband!“ – lautet ein englisches Sprichwort. Es will anregen, keine voreiligen Schlüsse aufgrund von Äußerlichkeiten zu ziehen. Und so lobenswert dieser Grundsatz sein mag, ein Historiker muss ihn ablehnen, wenn er sich mit mittelalterlichen Handschriften beschäftigt. Denn deren Geschichte und ihr „Sitz im Leben“ lassen sich nur durch eine ganzheitliche Betrachtung aller ihrer Teile, eben auch des Einbands, erschließen. Und im vorliegenden Fall sind es gerade der Einband (sowie ein ausgefranster Pergamentzettel), die es ermöglichen, den Moment in der Geschichte zu erkennen, als sich das zugehörige Buch in Freiburg im Breisgau befand.

Das Buch, um das es hier geht, konnte die Universität Freiburg im Herbst 2014 mit finanzieller Unterstützung des Landes Baden-Württemberg erwerben. Die Handschrift, die sich nun in den Beständen des Universitätsarchivs Freiburg befindet, hat ein größeres Quartformat (etwa vergleichbar mit DIN B5) und einen Umfang von 69 Blatt Pergament. Gebunden ist sie in einen Einband aus Holzdeckeln, die mit braunem Kalbsleder überzogen sind. Da eine Titelei bei mittelalterlichen Büchern leider nicht existiert, wird der moderne Leser auf den Rücken blicken, um sich einen ersten Eindruck über den Inhalt zu verschaffen. Dort lassen sich nun tatsächlich auf einem stark beschädigten Schildchen die Worte „Antiquae Constitutiones Universitatis Friburgensis“, also „Alte Satzungen der Universität Freiburg“, entziffern.

Schlägt man das Buch auf, steht links auf dem Vorsatzblatt der Anfang des Johannesevangeliums, rechts auf der ersten Seite das Gründungsprivileg Albrechts III. für die Universität Wien. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Freiburg; Foto: Landesarchiv B
Schlägt man das Buch auf, steht links auf dem Vorsatzblatt der Anfang des Johannesevangeliums, rechts auf der ersten Seite das Gründungsprivileg Albrechts III. für die Universität Wien. (Bildnachweis: Universitätsarchiv Freiburg; Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut)

Schlägt man das Buch nun auf, so wird man jedoch enttäuscht. Zwar steht am Anfang das Privileg eines Herzogs Albrecht. Aber es handelt sich hierbei um den „falschen“ Albrecht! Nicht um den Freiburger Universitätsgründer Albrecht VI. (1418 – 1463), der in der vorderösterreichischen Stadt 1457 eine Universität privilegierte, sondern um Herzog Albrecht III. (1349/50 – 1395). Sein Privileg ist wesentlich älter: Es galt der Universität Wien, die im Jahr 1384 von ihm das Recht erhielt, sich selbst und den Unterricht an ihr zu organisieren. Auf den nächsten Seiten folgen nun die Statuten der vier Fakultäten der Universität Wien: der theologischen, der juristischen, der medizinischen und der „artistischen“ Fakultät, also der Fakultät der sieben freien Künste, der artes liberales. Aber wenn es in dem Buch um die Universität Wien geht, was hat es dann mit Freiburg zu tun?

Die Texte der Handschrift wurden sorgfältig von einem sicherlich professionellen Schreiber in einer Schrift der Mitte des 15. Jahrhunderts, einer „Bastarda“, auf fein gefertigtem Pergament geschrieben. Die Anfänge des 

Privilegs und der Statuten sind jeweils mit großen, kunstvollen Fleuronnée-Initialen in roter und blauer Tinte verziert und auch ansonsten wurden Initialen und Textmajuskeln in roter und blauer Tinte mit Zierstrichen in der Gegenfarbe ausgeführt. Auch beim Einband wurden höhere Kosten in Kauf genommen. Ihn schmückt ein Ensemble aus Streicheisenlinien und Blindstempeln sowie Schließen und Buckel aus Messing. (Bücher wurden im Mittelalter liegend gelagert und die Buckel sollten verhindern, dass der Einband großflächig abgewetzt wird.) Zwar handelt es sich nicht um eine Prachthandschrift, doch vermittelt ihre Ausstattung zweifellos ein gewisses Prestige, das ihrem Inhalt zugemessen wurde, und das ihr Besitzer auch nach außen vermitteln wollte.

Außer den Wiener Statuten haben andere Schreibhände derselben Zeit sorgfältig weitere Texte eingetragen. Auf dem Vorsatzblatt des Buches steht der Anfang der lateinischen Übersetzung des Johannesevangeliums. Hinten in der Handschrift liegt ein teils eingerissener, zerknitterter und angesengter Zettel aus Pergament. Bei dem kurzen Text auf diesem „Fresszettel“ handelt es sich tatsächlich um den Freiburger Immatrikulationseid; es ist derselbe Wortlaut wie in den Matrikeln der Freiburger Universität.

Das Buch enthält also ein ganzes Ensemble an Texten: Privileg, Statuten, Immatrikulationseid und Johannesevangelium. Daraus lassen sich zentrale Merkmale der Entstehung der europäischen Universität im Mittelalter ablesen. Herausgebildet hatte sich die Institution am Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts. Die Universitäten zu Bologna und Paris gelten als besonders beispielhaft. Gemeinsam ist beiden, dass sie eine Schutzgemeinschaft waren. Denn der Schutz durch ein Recht und die unbedingte Verfolgung bestimmter Verbrechen auch ohne Kläger begann sich als Idee erst im 12. Jahrhundert langsam durchzusetzen. Wer fremd war, war zunächst in gewissem Maße rechtlos. In Bologna schlossen sich daher die nicht aus Bologna kommenden Studenten der dortigen Rechtsschulen zu einer Rechtsgemeinschaft, lateinisch „universitas“, zusammen, um sich vor Übergriffen zu schützen. In Paris waren es nicht die Studenten, sondern die dortigen Magister der Philosophie und Theologie (ihre Studenten waren meist jünger und finanziell weniger potent), die eine hierarchischer organisierte „Universität“ der Magister und Scholaren bildeten.

Sowohl Päpste wie Könige erkannten das Potenzial von Experten in Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin. Nicht entgehen lassen wollten sie sich auch den wirtschaftlichen Nutzen, den die von Anfang an internationalen Studierenden und Lehrenden für die neuen Universitätsstädte brachten. Die Privilegien des Papsttums sorgten dafür, dass Abschlüsse der anerkannten Hochschulen im gesamten lateinischen Europa Geltung hatten. Die Privilegien der Könige schützen die neuen Gemeinschaften vor Übergriffen zum Beispiel der Universitätsstädte selbst, die zwar gerne das Geld der Fremden nahmen, jedoch ein eher gespanntes Verhältnis zu diesen Rechtgemeinschaften hatten, die sich ihrer städtischen Autorität entzogen.

Die Statuten waren ein Schrift gewordenes Zeugnis dieses Rechtsstatus und der Selbstorganisation der Institution „Universtität“. Wer in diese universitäre Gemeinschaft eintreten wollte und in die Stammliste ihrer Mitglieder, die Matrikel, aufgenommen werden sollte, musste ihre Regeln unter Eid anerkennen. Denn nach mittelalterlichem Rechtsverständnis konnte nur derjenige für die Übertretung einer Regel zur Rechenschaft gezogen werden, der ihrem Einhalten nachweislich zugestimmt hatte. Geleistet wurde dieser Eid auf das Wort Gottes. Deshalb ist in zahlreichen Matrikeln wie auch Statutenbüchern der Anfang der Bibel eingetragen, genauer gesagt der für diesen Zweck verwendete Anfang des Johannesevangeliums, um beim Schwur als handlicherer Ersatz für eine vollständige Bibel zu dienen.

Die Strahlkraft der Universitäten wie Paris und Bologna führte dazu, dass Kaiser Karl IV. (1316 – 1378) 1348 in Prag die erste Universität im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen gründete. Dem Vorbild dieser erfolgreichen Gründung eiferte der Habsburger Rudolf IV. (1339 – 1365), Herzog von Österreich, nach und gründete 1365 die Universität Wien. Doch zunächst blieb es, auch aufgrund seines baldigen Todes, bei diesem Versuch. Und so wurde die Universität Wien 1384 von Rudolfs Nachfolger Albrecht III. erneut gegründet; diesmal flankiert von päpstlichen Privilegien sowie dem Privileg Albrechts, das sich in unserer Handschrift findet. Darüber hinaus wandte sich Albrecht III. auch an die, die wohl am besten wussten, wie eine Universität funktioniert: Er warb einige Professoren der Pariser Universität ab. Diese brachten die Struktur ihrer Universität, deren Lehrplan und auch deren Bücher mit. So ist Wien gewissermaßen eine Tochter der Universität Paris und erbte die Einteilung in vier Fakultäten und die bestimmende Rolle der Professoren in ihrer Organisation.

Im deutschsprachigen Südwesten war lange Zeit Heidelberg – 1386 nach Pariser und Prager Vorbild gegründet – die einzige Universität. Doch Mitte des 15. Jahrhunderts kam es geradezu zu einem Wettlauf der Gründungen. Fast gleichzeitig entstanden die Universitäten Freiburg (1457) und Basel (1460) sowie die Universität Tübingen (1477). Die Gründung der Freiburger Universität war hierbei Teil der Territorialpolitik Herzog Albrechts VI. Er versuchte in Vorderösterreich ein Gegengewicht zu den östlichen habsburgischen Besitzungen aufzubauen – eine zweite habsburgische, eine eigene Universität gehörte hier dazu. Strukturell orientierte sich die Neugründung Freiburg unter anderem an Heidelberg. Dies lag am Einfluss des Gründungsrektors Matthäus Hummel (1425 – 1477), der in Heidelberg Medizin und Kirchenrecht studiert und dort gelehrt hatte. Zugleich war jedoch naturgemäß die erste habsburgische Universität in Wien ein institutionelles Vorbild. Dies zeigen glücklicherweise erhalten gebliebene Konzepte und Arbeitsversionen der ersten Statuten.

Als Albrecht VI. 1458 die Regentschaft über Vorderösterreich an seinen Cousin Sigismund (1427 – 1496) übergab, begann für Freiburg zunächst eine Zeit frei von herrschaftlichem Einfluss, in der die Universität beträchtlich wuchs. Diese Freiheit endete jedoch 1469. Um seinen herrschaftlichen Anspruch zu unterstreichen, aber auch um die Struktur der gewachsenen Universität an die größere Zahl ihrer Mitglieder anzupassen, forderte Herzog Sigismund eine Reform der Universität. Diese Reform sollte mit einer Übernahme der Wiener Statuten verbunden sein.

Um diese institutionelle Änderung umzusetzen, bediente sich Sigismund des erprobten Verfahrens für solche Unternehmungen: Er warb Träger des gewünschten Wissens ab und schickte vier Wiener Magister nach Freiburg. Es handelte sich um die beiden Theologen Johannes Mösch aus Altheim und Nikolaus Matz aus Michelstadt, den Kirchenrechtler Friedrich Meckenleder aus Wendelstein sowie den „Artisten“ Gerius Leder aus Waiblingen. Die Wünsche Sigismunds trafen nun im Senat der Universität Freiburg auf einen gewissen Widerwillen. Auch sorgten die vier Neuankömmlinge für einen weiteren Eklat: Sie weigerten sich, den Immatrikulationseid auf die alten Freiburger Statuten abzulegen. Vermutlich ein recht kluger Schachzug der Wiener, denn dies hätte sie ja zu deren Einhaltung verpflichtet, was den beharrenden Kräften in Freiburg sicherlich entgegengekommen wäre. Doch der Freiburger Widerstand war zwecklos. Am 29. Juli 1469 wurden die vier in die Matrikel der Freiburger Universität eingetragen. Und nicht nur das. Bereits im folgenden Wintersemester, am 31. Oktober 1469, wurde Johannes Mösch zum neuen Rektor der Universität gewählt. Auch Meckenleder und Matz hatten später das Amt des Rektors inne. Mösch wurde bereits gemäß der neuen Statuten gewählt. Das Original dieser neuen Freiburger Statuten ist leider nicht erhalten geblieben. In den Senatsprotokollen wird jedoch eine Sammlung von Wiener Privilegien und Stauten erwähnt, die als Diskussionsgrundlage für die Umgestaltung der Freiburger Universität dienen sollte.

Nun könnten bereits diese Indizien plausibel genug sein, um Schlüsse zur Herkunft der hier beschriebenen Handschrift zu ziehen. Doch ist es möglich, noch größere Sicherheit zu gewinnen. Und hier kommt nun der Einband ins Spiel. Wie erwähnt, ist er aufwendig mit Blindstempeln verziert. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit historischen Bucheinbänden kommt der Identifikation dieser Stempel eine besondere Rolle zu, denn sie gleichen einem Fingerabdruck: Selbst ähnliche Formen sind nie auf identische Werkzeuge zurückzuführen. So ist es möglich, die Werkzeuge, mit denen die Einbände bearbeitet wurden, bestimmten Buchbinderwerkstätten und deren Nachfolgern (die wertvollen Werkzeuge wurden vererbt und weiterverkauft) zuzuordnen.

Im Fall unseres Buchs kann sogar ein namentlich bekannter Künstler identifiziert werden: Es handelt sich um den Buchbinder Mathias, der im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts in Wien tätig war. Mathias‘ Produkte hatten eine eher regionale Bedeutung und sind alle in räumlicher Nähe Wiens überliefert. Eine bedeutende Ausnahme bildet die Kirchenbibliothek zu Michelstadt im Odenwald, wo mehrere Bände mit Mathias‘ Einbänden erhalten sind. Diese Bibliothek hatte nun allerdings einen bekannten Schenker: Der 1469 nach Freiburg beorderte Wiener Theologe Nikolaus Matz, der 1478 die Universität Freiburg wieder verließ, hatte die Bücher seiner Heimatstadt vermacht.

Hier – gewissermaßen „zwischen den Buchdeckeln“ – fügt sich nun alles zusammen. Sowohl Matz wie auch der Theologe Mösch und der Kirchenrechtler Meckenleder hatten aufgrund ihrer Position die finanziellen Mittel, um eine kunstvoll ausgestattete Handschrift wie die vorliegende anfertigen zu lassen. Die Platzierung des Pergamentzettels mit dem Freiburger Immatrikulationseid erscheint im ersten Moment willkürlich. Doch wird er wohl im Juli 1469 einem der Wiener Professoren als Gedächtnisstütze bei der Immatrikulation gedient haben.

Mit dem Buch, das heute als „Freiburg-Wiener Statuten“ bekannt ist, halten wir vielleicht den bisher verlorenen akademischen Import aus Wien in Händen. Es wird im Freiburger Senat zunächst mit wenig Begeisterung betrachtet worden sein. Doch die erfolgreiche Weiterentwicklung der Universität Freiburg scheint diese Reform im Nachhinein zu rechtfertigen. Eine Reform, die nur möglich war aufgrund der Wanderung von Akademikern und dem Wissen, das sie erworben hatten; auf der Grundlage eines grenzüberschreitenden Austauschs, der von Anfang an ein Wesensmerkmal der europäischen akademischen Gemeinschaft war. Noch viele Lücken klaffen in unserem Bild von der frühen Geschichte der Universität Freiburg. Dass die „Freiburg-Wiener Statuten“ nun wieder in den Schoß der Alma Mater Friburgensis zurückkehrten, ermöglicht es, dieses Bild etwas lebhafter zu zeichnen.

Ein Beitrag von Dr. Rüdiger Lorenz in Momente 2|2017.