Leseprobe Momente 3|2017
Martin Luther in Heidelberg

Wie sein persönliches Auftreten 1518 die Reformation im südwestdeutschen Raum prägte

1518 in Heidelberg vertrat Martin Luther seine Theologie zum ersten und einzigen Mal öffentlich im Südwesten. Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung seiner 95 Thesen war damals die Neugierde groß – und die Nachwirkung gewaltig.

Eintrag im Protokollbuch der Heidelberger Artistenfakultät am 24. April 1518
Eintrag im Protokollbuch der Heidelberger Artistenfakultät am 24. April 1518: Es wurde beschlossen, dass die Disputation der Augustiner im Vorlesungsgebäude der Artisten und in Anwesenheit des Universitätsdieners mit Zepter und Insignien der Universität stattfinden durfte. (Foto: Universitätsarchiv Heidelberg)

Am 31. Oktober 1517 erschütterte Martin Luther die Öffentlichkeit mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen gegen die Missbräuche beim Ablass. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich aus Luthers Diskussionsangebot eine Bewegung, die nicht nur den Glauben und die Kirche, sondern auch viele andere Lebensbereiche nachhaltig verändern sollte.

Ziemlich genau ein halbes Jahr später erhielt Luther in Heidelberg die Gelegenheit, seine Ansichten in einer öffentlichen Debatte zu vertreten. Der Heidelberger Disputation am 26. April 1518 kommt für die frühe Reformationsgeschichte eine besonders große Bedeutung zu. Der Reformator konnte hier seine Theologie, die der Ablasskritik der 95 Thesen zugrunde lag, öffentlich darlegen und verteidigen. Es blieb die einzige Gelegenheit, durch sein persönliches Auftreten Anhänger im südwestdeutschen Raum zu gewinnen: 

Nachdem der Wormser Reichstag 1521 die Reichsacht gegen Luther verhängte, konnte er sich nicht mehr gefahrlos aus dem Schutz seines sächsischen Landesherrn begeben. Um über Wittenberg hinaus Wirkung zu entfalten, war Luther daher auf die Vermittlung durch seine Schüler und Anhänger angewiesen.

Eigentlich nur Begleitprogramm

Dass der Heidelberger Disputation ein solcher Stellenwert zuwachsen würde, war für die Zeitgenossen kaum abzusehen: Die Veranstaltung bildete eigentlich nur das Begleitprogramm für die turnusgemäß stattfindende Generalversammlung von Luthers Orden, den Augustinereremiten. Das letzte Generalkapitel hatte drei Jahre zuvor in Gotha getagt. Damals war der Augustinermönch Luther zum Distriktsvikar von Thüringen gewählt worden. In dieser Funktion nahm er auch am Generalkapitel in Heidelberg teil. Das vom Augustiner-Generalvikar Johannes von Staupitz versandte Einladungsschreiben lässt erkennen, welches Thema eigentlich im Mittelpunkt der Heidelberger Versammlung stehen sollte: Die Augustinereremiten strenger Observanz kämpften seit der Gründung ihres Ordenszweiges um ihre Stellung innerhalb des Augustinerordens. Staupitz waren nun Gerüchte zu Ohren gekommen, dass bei einer allgemeinen Ordensversammlung an Pfingsten 1518 eine Umstrukturierung des Ordens beschlossen werden sollte, durch die die Selbstbestimmungsrechte der Observanten stark beschnitten worden wären: „Die Gegner spitzen die Zungen und Zähne und versprechen sich einen sicheren Triumpf und rühmen sich, dass … die Kongregation den Provinzen unterworfen werden und der Name des Vikariats ausgetilgt werden solle.“ (Staupitz im Einladungsschreiben zum Heidelberger Kapitel, München, 16. Dezember 1517.)

Das Generalkapitel in Heidelberg sollte beraten, wie dieser Gefahr am besten begegnet werden könnte. Eigens zu diesem Zweck wurde die Versammlung auf April vorverlegt. Nur so war es möglich, die Delegierten, die zur allgemeinen Versammlung nach Italien reisen sollten, noch im Vorfeld zu instruieren. Luthers Disputation wurde vermutlich erst ins Programm aufgenommen, nachdem Staupitz Anfang des Jahres 1518 erfahren hatte, dass Luther in Rom als Ketzer denunziert worden war. Anfang Februar forderte Papst Leo X. den Ordensgeneral Gabriel Venetus auf, Luther rasch auf den rechten Weg zurückzubringen – bevor sich aus seinen Lehren eine mächtige Bewegung entfalten könnte, die dann nicht mehr so leicht einzudämmen wäre. Im Raum stand damit Luthers Verhaftung, die Venetus tatsächlich im August 1518 anordnete. Bevor es dazu kommen konnte, wollte Staupitz – Luthers Beichtvater und Förderer – seinem Schützling wahrscheinlich Gelegenheit geben, sich öffentlich zu verteidigen. Im unmittelbaren Vorfeld der Heidelberger Versammlung verschoben sich die Prioritäten dann gänzlich: Die Generalversammlung des Augustinerordens in Italien wurde abgesagt. Die Luthersache dagegen hatte so sehr an Brisanz gewonnen, dass die Disputation vermutlich mit Spannung erwartet wurde.


Ablass

Ablässe verringern nach römisch-katholischer Theologie die Zeit, die eine Seele wegen ihrer weltlichen Sünden im Fegefeuer verbringen muss, bevor sie in den Himmel kommt.


Über Luthers Reise nach Heidelberg sind wir durch seine Briefe an den Erfurter Prior Johann Lang, an den sächsischen Hofkaplan Georg Spalatin und an Generalvikar Staupitz recht gut informiert. Luther befand sich in Begleitung seines Ordensbruders Leonhard Beier sowie eines Botens namens Urban, der für die beiden Mönche mittels Referenzschreiben des sächsischen Kurfürsten für sicheres Geleit und Nachtquartier sorgen sollte. Obwohl ihn seine Freunde vor den Risiken der Reise warnten, bestand Luther zunächst darauf, gemäß der Ordensregel die Strecke zu Fuß zu bewältigen. Dabei legte er täglich etwa 30 bis 40 Kilometer zurück. Aber schon in Coburg klagte Luther über seine große Müdigkeit. Von Würzburg aus nahm ihn sein Ordensbruder Johann Lang im Wagen nach Heidelberg mit, wo er am 21. oder 22. April 1518 eintraf.

Heidelberg, Residenzstadt des Kurfürsten Ludwig V., geprägt durch Hof und Universität, war Anfang des 16. Jahrhunderts ein Zentrum des Humanismus. Das Augustinerkloster, in dem Luther während seines Aufenthalts wohnte, stand auf dem heutigen Universitätsplatz. Wie aus Staupitz‘  Einladungsschreiben hervorgeht, stöhnte der Heidelberger Konvent unter der Last, die vielen Gäste zu beherbergen: Das Erntejahr 1517 war extrem schlecht gewesen und der Konvent hatte infolgedessen geringe Einkünfte verzeichnet. Prior Andreas Lufft hatte das Generalkapitel daher eigentlich auf den Herbst verschieben wollen. Um den Konvent zu entlasten, legte Staupitz einen Kostenplan fest. Demnach musste der Konvent die Teilnehmer zwar drei Tage lang umsonst verköstigen, danach sollte aber jeder Gast pro Mahlzeit 20 Pfennige bezahlen. Außerdem galt: „Die aber außerhalb der Mahlzeiten trinken, sollen dafür bezahlen. … Also haltet Maß bei den Ausgaben, beste Männer.“ (Staupitz‘ Einladungsschreiben zum Heidelberger Kapitel, München, 16. Dezember 1517.) Einen Zuschuss von insgesamt sechs Gulden erhielt der Heidelberger Konvent durch die theologische und artistische Fakultät der Universität Heidelberg. Die artistische Fakultät erlaubte den Augustinern zudem, die Disputation in ihrem Hörsaal abzuhalten. Trotzdem überstieg die finanzielle Belastung offenbar die Ressourcen des Konvents: Für 1518 ist urkundlich belegt, dass der Münchener Konvent seine Heidelberger Brüder finanziell unterstützen musste.

Schlossführung nach dem Essen

Martin Luther scheint es in Heidelberg trotz dieser Schwierigkeiten sehr gut gefallen zu haben. Er berichtete nach seiner Heimkehr frohgemut an Georg Spalatin, dass er selbst, Staupitz und Lang durch Pfalzgraf Wolfgang – den jüngsten Bruder des Kurfürsten, den Luther von der Wittenberger Universität her kannte – auf dem Schloss empfangen worden seien. Einem gemeinsamen Essen folgte eine Schlossführung, von der sich Luther sehr beeindruckt zeigte.

Das Generalkapitel begann am 25. April mit einer Geschäftssitzung. Hier wurde Staupitz in seinem Amt als Generalvikar bestätigt. Luther legte Rechenschaft über seine Tätigkeit als Distriktsvikar ab und übergab sein Amt an den neu gewählten Johann Lang. Am 26. April folgte dann die Disputation im Hörsaal der Artistenfakultät. Durch die Anwesenheit des Pedells mit Szepter und Insignien der Universität erhielt die Ordensveranstaltung einen offiziösen Charakter. Sie stand der gelehrten Öffentlichkeit offen und war gut besucht: Neben den Teilnehmern des Augustiner-Generalkapitels sind zahlreiche Universitätsangehörige sowie Pfalzgraf Wolfgang als Zuhörer belegt. Vermutlich waren außerdem einige Heidelberger Kleriker, Bürger, kurfürstliche Räte und kurpfälzische Adelige zugegen.


Rechtfertigungslehre

In den Heidelberger Thesen entwickelte Luther seine Rechtfertigungslehre: Entgegen der damals herrschenden Lehrmeinung ging er davon aus, dass der Mensch nicht durch gute Werke – also durch eigenes Handeln wie etwa eine Wallfahrt oder den Kauf eines Ablassbriefes – die Gnade Gottes erwirken kann. Voraussetzung dafür ist Luther zufolge allein der Glaube an den Opfertod Christi (theologia crucis). Dies geht aus der in Heidelberg diskutierten These 25 hervor: „Non ille iustus est qui multum operatur, Sed qui sine opere multum credit in Christum.“ (Nicht der ist gerecht, der viel wirkt, sondern der ohne Werk viel an Christus glaubt.)


Luther hatte für die Disputation 40 Thesen vorbereitet: 28 theologische Thesen, in denen er seine Rechtfertigungslehre [siehe Kasten] entwickelte, und 12 philosophische Thesen, in denen er sich mit der aristotelischen Ethik auseinandersetzte. Disputiert wurde aus Zeitgründen vermutlich nur über die theologischen Thesen 1 – 16 und 25. Sie befassten sich mit dem hinter der Ablasskritik stehenden Problem der Werkgerechtigkeit und der Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes.

Das Heidelberger Publikum nahm Luthers Vortrag generell wohlwollend auf. Luther zeigte sich in seinem Brief an Georg Spalatin Mitte Mai sehr zufrieden mit dem Verlauf der Disputation: Die fünf anwesenden Heidelberger Theologieprofessoren hätten, auch wenn sie ihm nicht zustimmten, immerhin scharfsinnig und wohlgesetzt gegen ihn argumentiert. Nur der jüngste unter ihnen – vermutlich Georg Schwartz (Nigri) – verärgerte Luther mit der kritischen Replik: „Wenn das die Bauern hörten, würden sie Euch steinigen und töten.“ Diese Bemerkung wurde durch das Plenum mit viel Gelächter quittiert.

Karte
Nicht in der Karte verzeichnet ist Johann Eisenmenger (1495-1574), der zwar erst ab 1520 als Mitglied der Artistischen Fakultät gesichert ist, aber 1518 als Regens der Theologenburse St. Jakob doch in Heidelberg war. Seit 1524 wirkte er gemeinsam mit Johannes Brenz als evangelischer Pfarrer und Reformator in Schwäbisch Hall, nach 1549 unter anderem in Urach und Tübingen sowie als Generalsuperintendent des südwestlichen Teils von Württemberg.
Isenmann und Brenz im Gespräch mit Luther in Heidelberg 1518 (Foto: Kirchengemeinde St. Michael und St. Katharina, Schwäbisch Hall, Foto: Jürgen Weller)
Das Bild „Isenmann und Brenz im Gespräch mit Luther in Heidelberg 1518“ hängt in der Kirche St. Katharinen in Schwäbisch Hall. Gemalt von Gustav Baumann (1812–1890), hat ein unbekanntes Gemeindemitglied das Gemälde zum Reformationsfest 1854 der Kirche gestiftet: Zur Ehre der beiden prominenten Haller Reformatoren Isenmann/Eisenmenger und Brenz und zur Erinnerung an den Moment, in dem sie dem großen Vorbild Luther persönlich begegneten. (Foto: Kirchengemeinde St. Michael und St. Katharina, Schwäbisch Hall, Foto: Jürgen Weller)

Die etablierten Theologen konnte Luther in Heidelberg nicht von seiner Lehre überzeugen, sie alle verharrten letztlich bis zu ihrem Tod im alten Glauben. Breite Zustimmung fand er dagegen unter den jüngeren Magistern und Studenten. Hier liegt die Bedeutung, die Luthers Disputation für die Reformation im südwestdeutschen Raum hatte: Von immerhin elf evangelischen Predigern und Reformatoren, die in den 1520er- und 30er-Jahren in Südwestdeutschland wirkten, ist bekannt, dass sie an der Heidelberger Disputation persönlich teilnahmen [siehe Karte]. Es ist anzunehmen, dass Luthers Vortrag ein starker Impuls für ihre Hinwendung zur evangelischen Lehre war. Gut belegt ist dies für Martin Bucer. Er war damals ein junger Dominikanerpriester, der in Heidelberg studierte. In einem Brief an den Humanisten Beatus Rhenanus zeigte er sich tief beeindruckt von Luthers Disputation und berichtete, dass er sich nach der Disputation noch in einem persönlichen Gespräch und bei einem gemeinsamen Abendessen von Luther in seiner Lehre unterweisen ließ. 1521 setzte er seine Entlassung aus dem Dominikanerorden durch und begann, als evangelischer Prediger zu wirken. Er avancierte zu einem der prägendsten Reformatoren Südwestdeutschlands.

Auch Pfalzgraf Wolfgang lobte Luthers Auftreten in einem Brief an Luthers Landesherrn und universitären Arbeitgeber, Kurfürst Friedrich den Weisen: Luther habe sich „mit seinem diputiren also geschickt gehaltten, dass er nit eyn kleyn Lob E.L. [Euer Liebden] Universitet gemacht hatt“ (Heidelberg, 1. Mai 1518). Es ist anzunehmen, dass der Pfalzgraf auch seine beiden älteren Brüder, den amtierenden Kurfürsten Ludwig V. und den späteren Kurfürsten Friedrich II., über Luthers Disputation unterrichtete. Während Ludwig V. zeitlebens altgläubig blieb, hegte Friedrich II. in den folgenden Jahren so starke Sympathien für die evangelische Lehre, dass er 1521 Martin Bucer als Hofprediger an seine Amberger Residenz berief.

Die unmittelbare Reaktion der Augustinereremiten ist nicht überliefert. Luther selbst berichtete an Spalatin, dass er seinen Ordensbruder Bartholomäus Arnoldi, der mit ihm gemeinsam die Rückreise antrat, nicht restlos überzeugen konnte. Zahlreiche andere Augustinermönche dagegen, darunter auch die in Heidelberg nachgewiesenen Johann Lang, Caspar Güttel und Leonhard Beier, folgten in den nächsten Jahren Luther und traten aus dem Orden aus. Das 1518 schon verarmte Heidelberger Augustinerkloster löste sich 1547 vollständig auf, danach durfte die Universität die erhaltenen Gebäude nutzen. Nach den Zerstörungen im Pfälzischen Erbfolgekrieg entstand im 18. Jahrhundert an ihrer Stelle der heutige Universitätsplatz.

Die 28 theologischen Thesen, die in Heidelberg disputiert worden waren, wurden erstmals 1520 in Paris und Zwolle gedruckt, die gesamten 40 Thesen 1530 in Wittenberg. Sie wurden vielfach rezipiert und bilden bis heute einen Schlüsseltext für das Verständnis von Luthers früher Theologie.

Ein Beitrag von Dr. Regina Baar-Cantoni in Momente 3|2017.