In den 1920er-Jahren wurde das Wohnen nicht nur in Stuttgart radikal neu gedacht
Das Ende des Ersten Weltkriegs, die Revolution und der demokratische Neuanfang förderten auch in der Architektur neue Ansätze.
Die Beseitigung der Wohnungsnot in den Städten war eine der vordringlichen Aufgaben in den 1920er-Jahren. Zunächst löste man das Problem mit konventionellen Bauten. Doch immer mehr Architekten beschäftigten sich mit der Frage, wie sich das Bauen typisieren und industrialisieren ließe, um Wohnraum schneller und günstiger errichten zu können. Vieles blieb wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage noch Theorie und Utopie. Erste Lösungen für günstigen Wohnbau präsentierte die „Bauausstellung 1924“ auf dem frei gewordenen Stuttgarter Bahnhofsgelände an der heutigen Lautenschlagerstraße. Die dort gezeigten Häuser waren Beispiele für den Typenbau von Kleinhäusern und entstanden in enger Zusammenarbeit von Architekten und Baustoffindustrie. Durch die frühzeitige Kooperation erhoffte man sich ökonomische Vorteile und klare Preise für den Bauherrn.
Der Deutsche Werkbund (DWB) war 1907 vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung gegründet worden und hatte das Ziel, durch gute Gestaltung deutsche Produkte auf dem Weltmarkt wieder konkurrenzfähig zu machen. Zugleich verfolgte man die sozialutopische Idee, mit ästhetisch hochwertigen und gleichzeitig erschwinglichen Produkten die Gesellschaft zu verbessern. Zentral war die Forderung nach Material-, Formund Werkgerechtigkeit. Kunst, Industrie und Handwerk sollten zusammenwirken, um der Formgebung und damit der Gesellschaft zukunftsweisende Impulse zu geben. Der umfassende Anspruch wurde mit dem Schlagwort „Vom Sofakissen bis zum Städtebau“ formuliert.
Ermutigt durch den Erfolg der Bauausstellung 1924 und der zeitgleichen Werkbund-Ausstellung „Die Form“ plante der DWB ab dem Frühjahr 1925 eine große Ausstellung in Stuttgart mit dem Titel „Die Wohnung“. Das Ausstellungskonzept für den Wohnbau der Zukunft lag im Sommer 1925 vor, darin hieß es: „Die Rationalisierung auf allen Gebieten unseres Lebens hat auch vor der Wohnungsfrage nicht halt gemacht und wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit jede Verschwendung verbieten und die Erzielung größter Wirkungen mit den kleinsten Mitteln erfordern, so heißt das für den Bau von Wohnungen wie für den Wohnbetrieb selbst die Verwendung solcher Materialien und technischer Einrichtungen, die auf eine Verbilligung der Wohnungsanlagen und des Wohnbetriebs, sowie auf eine Vereinfachung der Hauswirtschaft und eine Verbesserung des Wohnens selbst abzielen.“
Bereits im Oktober 1925 war Ludwig Mies van der Rohe vom DWB mit der künstlerischen Leitung der Ausstellung beauftragt worden. Ihr Herzstück sollten die zu besichtigenden, eingerichteten Wohnhäuser am Weißenhof sein. Die Schwierigkeiten bei der Durchführung des Projektes sollen hier nur grob umrissen werden. Der Bebauungsplan sah eine terrassierte Bebauung mit Flachdachhäusern vor; sie wurde jedoch von den meisten Stuttgarter Architekten als ortsuntypisch und wenig praktikabel eingestuft. Die Auswahl der zu beteiligenden Architekten war international und überging weitgehend die renommierten Stuttgarter Architekten. Die Finanzierung durch die Stadt Stuttgart musste vom Gemeinderat beschlossen werden und verzögerte sich wegen der heftigen Auseinandersetzungen über die ersten beiden Fragen. Erst Ende November 1926 konnten die 17 Architekten beauftragt werden, weshalb viele Pläne nicht vor Frühjahr 1927 vorlagen. Einige der beauftragten Baufirmen zogen sich angesichts der ungewohnten Bauweisen wieder zurück, wodurch weitere Verzögerungen entstanden und die Kosten stiegen.
Die Eröffnung der Ausstellung fand am 23. Juli 1927 mit zwei Wochen Verspätung statt, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Häuser fertig waren. Zu sehen waren neben den unterschiedlichen Wohngebäuden der Siedlung auch das angrenzende Experimentiergelände mit innovativen Baustoffen. Daneben gab es die Hallenausstellung in den Gewerbehallen zur Ausstattung des Hauses – mit einem Schwerpunkt zu Küchen und Haustechnik – sowie die Internationale Plan- und Modellausstellung mit geplanten und gebauten Beispielen des Neuen Bauens. Neben der äußeren Gestalt der Häuser waren auch die Bauweisen innovativ und loteten die Möglichkeiten neuer Materialien aus. Vertreten waren neben dem Massivbau auch Skelettkonstruktionen aus Stahlbeton, Stahl und Holz, die mit wärmedämmenden Steinen oder gedämmten Plattenkonstruktionen ausgefacht wurden. Auch die Haustechnik zeigte den neuesten Stand der Entwicklung. So gab es Zentralheizungen statt Einzelöfen, Beleuchtung mit Strom sowie Gas- statt Kohleherde, um keine Kohlen mehr tragen zu müssen.
Bemerkenswert ist die hervorragende Pressearbeit, mit der der ehemalige Bauhaus-Student und Künstler Werner Gräff das Ausstellungsprojekt begleitete. Sie war in einem solchen Umfang neu. Die Ausstellungsleitung stellte zum 1. September 1927 einen Pressespiegel zusammen und schrieb: „An Hand uns übermittelter Belege konnten wir feststellen, daß bis jetzt mehr als 400 in- und ausländische Tageszeitungen über die Ausstellung berichtet haben … auch fast die gesamte Fachpresse Deutschlands, sowie viele Fachzeitschriften des Auslands in reich illustrierten Aufsätzen.“ Der Andrang war entsprechend groß, fast eine halbe Million in- und ausländische Besucher konnten gezählt werden. Doch auch längerfristig wirkte sich die umfangreiche Berichterstattung aus und sorgte dafür, dass die Weißenhofsiedlung bis heute als Auftakt für das Neue Bauen verstanden wird.
Inspiriert durch die zunehmende Mobilität und davon ausgehend, dass die Wohnbedürfnisse der Menschen überall gleich seien, forderten die Architekten die Überwindung regional geprägter Baustile. Rational entwickelte Lösungen sollten internationale Gültigkeit haben. Es ging um eine klare Abkehr von der Stil-Architektur des 19. Jahrhunderts, die als Ausdruck eines überwundenen Systems galt und als verschwenderisch abgelehnt wurde. Für die neue Gesellschaft musste eine radikal neue Architektur gefunden werden. Aufgegeben wurde daher der Repräsentationscharakter: die Symmetrie in den Fassaden, der Bauschmuck und die Ausrichtung zur Straße. Der Grundriss folgte stattdessen den optimierten Abläufen im Haus und den Himmelsrichtungen; die großformatigen Fenster orientierten sich an den Bedürfnissen im Raum und an Bezügen zu Natur und Aussicht. Die Fassaden blieben glatt und waren durch die Fensteranordnung rhythmisiert, statt Bauschmuck wurde Farbe zur optischen Unterstützung der Baukörpergliederung eingesetzt. Die Verwendung von Fertigteilen sollte die Bauzeit verkürzen und Stahlbeton machte neue Raumformen möglich. Das Neue Bauen umfasste also deutlich mehr als die auf den ersten Blick wahrnehmbare kubische Bauform mit Flachdach.
Le Corbusier gilt durch seine Artikel in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „L’Esprit nouveau“ als einer der Vordenker des Neuen Bauens, das später auch als Moderne bezeichnet wird. In seinem Buch „Vers une architecture“ forderte er 1922 pointiert die „Wohnmaschine“. Allerdings wurde dieser Begriff von den Gegnern aus dem Kontext gerissen und als Beleg für die Unmenschlichkeit der Häuser angeführt. Im übersetzten Original lautet die Passage: „Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Bäder, Sonne, heißes und kaltes Wasser, Temperatur, die man nach Belieben einstellen kann, Aufbewahrung der Speisen, Hygiene, Schönheit durch gute Proportionen... Unser modernes Leben, die Welt unseres Tuns, mit Ausnahme der Stunde des Lindenblüten- oder Kamillentees, hat sich seine Dinge geschaffen: die Kleidung, den Füller, die Rasierklinge, die Schreibmaschine, das Telefon, die wundervollen Büromöbel und die Innovation Koffer, den Gillette-Rasierapparat und die englische Pfeife, den Melonenhut und die Limousine, den Ozeandampfer und das Flugzeug.“
Die außergewöhnliche Bedeutung Le Corbusiers für die Idee und Verbreitung der Moderne würdigte die UNESCO im Sommer 2016 mit der Eintragung 17 wesentlicher Beispiele seines Werkes als Welterbe. Seine beiden Häuser in der Weißenhofsiedlung gehören dazu.
Die Erleichterung der Hausarbeit durch neue technische Möglichkeiten und optimierte Abläufe war damals ein zentrales Thema der Architektur. Die oftmals berufstätigen Frauen sollten mehr Zeit für die eigene Bildung und die Erziehung der Kinder haben. In Stuttgart erschien ab 1924 Hilde Zimmermanns Ratgeber „Haus und Hausrat“ in 28 Auflagen. Das Vorwort beginnt mit den Worten „Die Zeit verlangt gebieterisch, daß jeder Einzelne mitarbeitet am Wohle des Ganzen, darauf bedacht ist, das Seine beizutragen zur Wiedererstarkung unseres Staates. Daß von der Frau, der alle staatsbürgerlichen Rechte verliehen worden sind, an solch bewußter Mitarbeit mehr verlangt wird, als ehedem von der allem öffentlichen Leben fernstehenden Frau, ist klar.“ Ebenfalls in Stuttgart erschien 1926 „Der neue Haushalt“ von Dr. Erna Meyer. Aufgrund dieses Buches wurde Erna Meyer zur Beraterin der Architekten der Weißenhofsiedlung für hauswirtschaftliche Fragen ernannt. Dort prüfte sie sämtliche Küchenplanungen, wobei sie immer wieder heftige Kritik äußerte. In der Hallenausstellung zeigte sie die zusammen mit Hilde Zimmermann entwickelten Stuttgarter Küchen. Deren Besonderheit bestand in der Verwendung von beweglichen Elementmöbeln, die den vorgeschlagenen Maßen des Deutschen Normenausschusses folgten. Diese Möbel sollten künftig von der Hausfrau im Laden nach Bedarf zusammengestellt werden. Daher wurde der Begriff „Ladenküche“ geprägt, um sich von der Einbauküche zu unterscheiden, wie Grete Schütte-Lihotzky sie als „Frankfurter Küche“ entwickelt hatte. Mit der Ladenküche ist die Idee der Einbauküche nach unserem heutigen Verständnis formuliert.
Weil das Thema für sie so wichtig war, gab es immer wieder Äußerungen der Architekten, wie sie sich die künftige Hausarbeit vorstellten. So erläuterte der Niederländer Mart Stam 1927 in dem Buch „Bau und Wohnung“ zu den Bauten der Weißenhofsiedlung, warum in seinen Häusern die Küche minimiert und Bereiche für hauswirtschaftliche Tätigkeiten stark reduziert sind: „Sämtliche Arbeiten, welche, statt in jedem Haushalt einzeln, in einer Anstalt für mehrere Familien gemeinsam gemacht werden können, müssen aus dem Haushalt verschwinden. Heutzutage backen wir uns nicht mehr jeder das eigene Brot. Wir werden in fünfzig Jahren auch nicht mehr waschen, Apfeltorten backen, Nudeln bereiten, oder Gemüse und Obst für die Wintermonate einmachen. Wir werden das nicht mehr tun, aus dem einfachen Grunde, weil es sehr unökonomisch sein wird.“
Ein Beitrag von Inken Gaukel in Momente 4|2018.