Ein Kaleidoskop der Geschichte
Film ist Alltag – jedenfalls in einer Werbebroschüre um 1961 von Bauer. Die Bosch-Tochterfirma stellte Filmkameras her. (Foto: Haus des Dokumentarfilms)
Film ist Alltag – jedenfalls in einer Werbebroschüre um 1961 von Bauer. Die Bosch-Tochterfirma stellte Filmkameras her. (Foto: Haus des Dokumentarfilms)

„Das Leben auf frischer Tat ertappt …“, so könnte das Motto für den Amateurfilm lauten. Das Medium Film hat schon in seinen Anfangsjahren die Leute verblüfft und sie mit einem völlig ungewohnten Blick auf die Welt in seinen Bann gezogen. Als die Brüder Lumière 1895 erstmalig einen auf die Kamera zufahrenden Zug auf der Leinwand zeigten, rannten die Zuschauer in Panik aus dem Zelt. Spätere Amateurfilmer richteten die Kamera hingegen häufig eher auf das Vertraute, um so den Augenblick für die Zukunft festzuhalten. Damit erhält der scheinbar subjektive Blick des Amateurfilmers objektive Gültigkeit. Alle Aspekte des privaten Lebens finden sich im Amateurfilm wieder, bewusst oder unbewusst fängt der Filmamateur dabei auch ein Stück „Zeitkolorit“ des jeweiligen Jahrzehnts ein. Über rein private Momente hinaus können dies daher auch Ereignisse der Zeitgeschichte sein.

Ebenso vielfältig wie die Erscheinungsformen und Filmformate der Amateurfilme gestaltet sich deren Archivierung in Deutschland. Filme von überregionalem Interesse, mit regionalen Bezügen und von rein lokaler Bedeutung finden sich in den unterschiedlichsten Archiven. Die föderale Struktur Deutschlands spiegelt sich somit auch in der Archivierung des Filmerbes. Auf Länderebene sammeln zahlreiche Filmarchive und medienpädagogische Einrichtungen neben kommerziellen und professionellen Produktionen teilweise auch Amateurfilmmaterial. Mit dieser Aufgabe wurde in Baden-Württemberg 2001 die Landesfilmsammlung beauftragt. Diese versteht sich als Angebot an Kommunen, Firmen oder Archive und insbesondere an Bürger des Landes.

Neben historischen Filmaufnahmen werden in der Landesfilmsammlung außerdem aktuelle Produktionen archiviert, die von der Filmförderung der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg eine Produktions- oder Verleihförderung erhalten haben. Weit über 1.000 Produktionen – in der Regel in Form eines Ansichtsexemplars auf DVD oder Blu-ray – finden sich in der Sammlung und stehen für eine individuelle Sichtung vor Ort in Stuttgart zur Verfügung. Hier spiegelt sich das breite Spektrum des Filmschaffens im Land wider. Der Bogen spannt sich von Dokumentarfilmen wie „Die Blume der Hausfrau“ (1998) über die Kinder- und Jugendserie „Fabrixx“ (2000 – 2004) sowie den für vier Oscars nominierten Spielfilm „Grand Budapest Hotel“ (2014) bis zu der beliebten TV-Serie „Schwarzwaldhaus 1902“ (2001).

Bei den historischen Filmdokumenten in der Landesfilmsammlung handelt es sich erwartungsgemäß überwiegend um Filmaufnahmen mit einem eher touristischen Interesse aus allen Regionen Badens und Württembergs, um Ereignisse der Stadt- und Landesgeschichte, um Dokumentationen von traditionellem Handwerk und Brauchtum, aber auch um einen ganz privaten Blick in den Familienalltag. Das älteste Filmdokument im Archiv sind private Aufnahmen des Stuttgarter Schlossplatzes aus dem Jahr 1904. Mit ca. 40 Prozent stammt ein hoher Anteil aus Privatbesitz. Zwischenzeitlich haben aber auch weit über 30 Stadtarchive ihre Filmbestände in der Landesfilmsammlung als Depositum eingelagert. Dabei handelt es sich teilweise um sehr große Bestände, wie z.B. aus den Stadtarchiven Esslingen und Reutlingen, oder um Bestände, deren Überlieferung weit zurückreicht, wie aus den Stadtarchiven Heidenheim, Gaggenau oder Stockach. Es sind dies insbesondere Ereignisse der Stadtgeschichte, Imagefilme oder auch Dokumentationen des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, wie in Filmen aus Heilbronn oder Pforzheim. Bei Filmen, die über das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg oder direkt von Firmen aus Baden-Württemberg eingelagert werden, handelt es sich überwiegend um professionelle Image- und Werbefilme. Erwähnung verdienen hier frühe Aufnahmen der Firma Steiff aus dem Jahr 1906.

Film- und kulturhistorisch wertvolle Filme aus Archiven oder Privatbesitz müssen allerdings nicht zwingend einen Bezug zu Baden-Württemberg haben. Daher finden sich in der Landesfilmsammlung auch Reisedokumentationen von Bürgern des Landes aus allen Regionen der Erde ab den 1910er-Jahren. Eine Sonderrolle innerhalb des Amateurfilms kommt sicherlich den privaten Filmaufnahmen von Soldaten der Wehrmacht zu, die in den Jahren 1939 bis 1945 mit ihrer privaten Kamera individuell erlebte Ereignisse festhielten. Man kann diese daher auch als Ergänzung zu den offiziellen Aufnahmen der Wochenschauen oder NS-Propagandafilme betrachten.

Die Entscheidung, welche Filme in die Landesfilmsammlung aufgenommen werden und dann auch nach einer Digitalisierung für eine Nutzung bzw. Verwertung zur Verfügung stehen, läuft in verschiedenen Phasen ab. Bei allen Filmen, die in die Landesfilmsammlung aufgenommen werden sollen, muss zunächst durch eine Sichtung entschieden werden, ob diese film- bzw. kulturhistorisch so wertvoll sind, dass ihre Archivierung und Digitalisierung gerechtfertigt ist. Die Digitalisierung des originalen Filmmaterials selbst wird an externe Kopierwerke vergeben, da im Haus die dafür erforderlich Technik nicht zur Verfügung steht. Nach Materialprüfung erstellt das Kopierwerk im Vorfeld einen Kostenvoranschlag im Einzelfall.

Durch Alterung des Filmmaterials bzw. durch unsachgemäße Lagerung verursachte Schäden können sich die Kosten der Digitalisierung erheblich verteuern. Gerade bei umfangreichen und kostenintensiven Beständen ist die Digitalisierung daher nur mit Drittmitteln der Stiftung Kulturgut möglich. Die Möglichkeiten und technischen Parameter der Digitalisierung werden letztlich aber von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, aber auch von Erfordernissen der Produktion diktiert. Das originale Filmmaterial wird in einem Filmlager bei konservatorisch guten Bedingungen von 12ºC und 50 Prozent konstanter Luftfeuchtigkeit eingelagert. Da es sich bei den Beständen der Landesfilmsammlung nicht um einen homogenen Bestand handelt, sondern die unterschiedlichsten Formate (teilweise auch mit Licht- oder Magnetton) umfasst, wurde ein Mittelwert festgelegt. Ein Spezialfall ist zweifelsohne die Lagerung von Nitrofilm, der noch bis Anfang der 1950er-Jahre verbreitet war. Aufgrund der mit der Lagerung verbundenen Gefahren unterliegt diese dem Sprengstoffgesetz. Da die Landesfilmsammlung nicht die Berechtigung zur Lagerung hat, werden die originalen Nitrofilme auf der Grundlage einer Rahmenvereinbarung im Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin eingelagert. Gleichzeitig werden die Filme in einer Datenbank formal und inhaltlich erschlossen, die eine detaillierte Recherche möglich macht. Die Filme werden dabei nicht nur durch die Vergabe von Deskriptoren, sondern insbesondere durch eine tiefe bildinhaltliche Erschließung zugänglich gemacht. Dies bedeutet im Einzelfall einen sehr hohen Zeitfaufwand für die Bearbeitung. So müssen nicht nur geografische Details oder Informationen zu Personen der Zeitgeschichte ermittelt werden. Da es sich bei den Filmen auch um Dokumentationen z.B. aus den Bereichen Technik oder Medizin handelt, müssen teilweise komplexe Sachverhalte recherchiert werden. Die Erschließung und Langzeitarchivierung des historischen Filmmaterials soll allerdings kein Selbstzweck sein. Das Anliegen der Landesfilmsammlung ist es vielmehr, dass die archivierten Filme vielfältig genutzt werden können. Grundvoraussetzung für jede Form der Nutzung ist zunächst aber die schriftliche Übertragung von Verwertungsrechten durch den Rechteinhaber in Form einer Nutzungsvereinbarung. Diese regelt nicht nur Aspekte der Digitalisierung und Langzeitarchivierung, sondern auch Fragen der Nutzung und Verwertung. Eigentums- und Urheberrechte des Eigentümers bleiben davon unberührt. Bei ca. 99 Prozent des archivierten Filmmaterials wurden der Landesfilmsammlung Verwertungsrechte übertragen; bei den anderen Filmen sind etwaige Fremdrechte zu klären und zu beachten.

Praktisch kommen die Filme der Landesfilmsammlung bei vielen Gelegenheiten zum Einsatz, etwa in Form einer nichtkommerziellen Nutzung für Schüler- und Studentenprojekte bzw. auf diversen Internetportalen oder bei einer kommerziellen Verwertung in den Eigenproduktionen des Hauses bzw. durch den Verkauf von Ausschnitten für aktuelle Produktionen. Neben Redaktionen von ARD und ZDF greifen zunehmend auch internationale (teilweise außereuropäische) Produzenten auf das Material der Landesfilmsammlung zu. Fernsehsender und Produzenten haben den Marktwert von historischem Amateurfilmmaterial längst erkannt. Das Geschäft mit dem privaten Blick des Filmamateurs auf die Welt hat Konjunktur. Die Redaktionen von Fernsehsendern und Filmproduzenten sind heute weltweit auf der Suche nach interessantem und bislang unveröffentlichtem Amateurfilmmaterial für Dokumentar- und Spielfilmproduktionen. Dominierte bis Anfang der 1980er-Jahre in Dokumentationen eindeutig noch „offizielles“ Filmmaterial, wird heute dem Amateurfilm der Vorzug eingeräumt. Etwaige technische Mängel des Amateurfilmmaterials belegen dabei die scheinbar unantastbare Authentizität des Amateurfilms. Bei der Verwendung von Amateurfilmmaterial in aktuellen Geschichtsdokumentationen setzt man heute ganz offensichtlich voraus, dass der Amateurfilmer die Wirklichkeit – frei von kommerziellen Hintergedanken und ideologischen Überlegungen – weitgehend objektiv festgehalten hat. Die privaten Filmquellen liefern darüber hinaus dem heutigen Betrachter Möglichkeiten der Identifikation; kann er doch über diese „privaten“ Bilder – im Gegensatz zu den offiziellen Aufnahmen der Wochenschau – Bezüge zu seinem Leben herstellen. Geschichte wird in Fernsehdokumentationen exemplarisch am persönlichen Schicksal erleb- und nachvollziehbar.

Es könnte jetzt der Eindruck entstehen, dass die Landesfilmsammlung durch die Vermarktung des Materials überwiegend ein kommerzielles Interesse verfolgt. Die durch Lizenzgebühren erwirtschafteten Erträge dienen letztlich aber nur der Refinanzierung der nicht unerheblichen Kosten für die Digitalisierung des analogen Filmmaterials und sind somit ein wirtschaftlich notwendiger Teilaspekt. Der Fokus liegt zweifelsohne auf einer nicht-kommerziellen Verwendung des Filmmaterials: Zahlreiche Schüler- und Studentenarbeiten oder auch kulturelle Projekte aus den Bereichen Theater und Musik oder Ausstellungen im Museumsbereich greifen auf das historische Filmmaterial zurück, oder z.B. Studentenprojekte der Filmakademie Baden-Württemberg. Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Kooperation mit dem Friedrich-Gymnasium in Freiburg im Breisgau, dessen medienpädagogische Arbeit durch die Auszeichnung von herausragenden Schülerarbeiten bereits mehrfach gewürdigt wurde.

Auf verschiedenen Internetportalen vermitteln Filmdokumente aus der Sammlung einen Eindruck von der Vielfalt des archivierten Filmmaterials: So spannt sich der Bogen von historischen Filmen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs auf der EUROPEANA hin zu Impressionen sowie Brauchtum aus allen Regionen des Landes auf LEO-BW. Auf der Plattform SESAM des Landesarchivs Baden-Württemberg steht u.a. Filmmaterial aus den frühen Nachkriegsjahren für den Schulunterricht bereit. Die Landesfilmsammlung bewegt sich somit in einem Spannungsfeld zwischen kommerzieller Verwertung und nicht-kommerzieller Nutzung. Hauptanliegen bleibt die dauerhafte Archivierung des Filmmaterials aus und über Baden-Württemberg.

Film ist das visuelle Gedächtnis unserer Gesellschaft. Film ist in seiner Wirkung direkter und unmittelbarer als jeder Bericht, als jede Erzählung, als jedes Foto. Die Landesfilmsammlung bewahrt dieses kulturelle Erbe für die Zukunft und macht es gleichzeitig in der Gegenwart sichtbar und zugänglich.

Ein Beitrag von Dr. Reiner Ziegler in Momente 1|2017.


Daten und Fakten

Haus des Dokumentarfilms (HDF) 1991 in Stuttgart gegründet zur Förderung des Dokumentarfilms, entstanden aus der Dokumentarfilmtradititon der „Stuttgarter Schule“ des Süddeutschen Rundfunks. Seit 2001 beherbergt das HDF die Landesfilmsammlung Baden-Württemberg mit derzeit rund 9.000 Filmen. Die Landesfilmsammlung BW wird finanziert über Mittel des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst und durch die Filmförderung der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg mbH.

Haus des Dokumentarfilms, Teckstraße 62, 70190 Stuttgart

Telefon 0711 92930900, hdf@hdf.de

www.hdf.de; www.landesfilmsammlung-bw.de