Hungersnöte haben immer zwei Seiten. Die Natur beeinflusst das Angebot von Nahrung. Die Gesellschaft reguliert die Verteilung der Lebensmittel. Solche „sozionaturalen“ Katastrophen, in denen Klima und Kultur interagieren, lassen sich am besten in Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften erforschen. Erst die Kombination von Archiven der Natur (Baumringe, Sedimente, Eisbohrkerne) mit den Archiven der Gesellschaft (Chroniken, Briefe, Bilder) erklärt, wie Hungersnöte entstanden und wie sie bewältigt wurden.
Der Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 und die darauf folgende Hungersnot in Zentraleuropa 1816/17 haben in beiden Archiven tiefe Spuren hinterlassen. Die Aschewolke und die vulkanischen Gase lassen sich bis heute in
Sedimenten und Eisbohrkernen nachweisen. Das folgende „Jahr ohne Sommer“ (1816) schlug sich in Veränderungen des Baumwachstums nieder. Ähnlich vielfältig sind die gesellschaftlichen Quellen. Sie umfassen 1815 – 1817 neben Zeitungen, Tagebüchern und Archivmaterial erstmals auch zahlreiche Bilder.
Ein großer Teil des Bildmaterials widmet sich den Feierlichkeiten zum Ende der Hungerkrise. Allein 21 Motive zeigen die Festzüge, die 1817 erstmals in weiten Teilen Süddeutschlands veranstaltet wurden (und teilweise bis heute fortgeführt werden) – die Beispiele stammen aus Bayern, Württemberg und Frankfurt. Die Bilder zum „Einzug des ersten Erntewagens“ hielten diese neue Form der Krisenbewältigung in Federzeichnungen, Hinterglasbildern, Lithografien oder als Schützenscheiben fest. Sie werden heute in Heimatmuseen oder Vereinen verwahrt. Viele weitere befinden sich vermutlich noch in Privatbesitz. Um sie einordnen zu können, müssen die Bilder in einer aufwendigen Spurensuche mit schriftlichen Überlieferungen aus Bibliotheken und Archiven (re-)kombiniert werden. Dabei zeigt sich rasch, dass mit dem Medienwechsel vom Fest zum Bild viele Informationen verloren gehen, während neue hinzukommen. Die Bilder spiegelten die Situation nicht einfach wider, sie formten die Erinnerung nach den Vorstellungen der Gesellschaft. Sie dienten der Bewältigung der Krise, nicht ihrem Abbild.
In Stuttgart fand der Einzug am 28. Juli 1817 statt. Er ist sowohl in mehreren Bildern als auch in Zeitungsberichten dokumentiert. Die Feierlichkeiten begannen mit der Begrüßung des Erntewagens an einem der Stadttore. Dann fuhr der festlich geschmückte Wagen, von Schulkindern begleitet, unter Glockengeläute, Musik und Gesang durch die von Zuschauern gesäumten Straßen Stuttgarts. Einwohner aller Schichten und Stände waren eingeladen teilzunehmen. Auf dem Schillerplatz empfingen Zuschauer, geistliche Würdenträger, der Stadtmagistrat und Vertreter des Wohltätigkeitsvereins den Erntewagen mit Ansprachen und Gesängen. Die Feierlichkeit endete mit Dankgottesdiensten, bei denen Opfer für die Armen gesammelt wurden.
Die Lithografie nach F. Müller zeigt den Einzug des Erntewagens auf dem Schillerplatz, erkennbar am Turm des Alten Schlosses links im Bild und der Stiftskirche. Der einfahrende Erntewagen wird von Zuschauern erwartet, die durch ihre Kleidung differenziert werden. Kinder laufen dem Wagen voraus und ihm folgend ziehen singende Menschen auf dem Platz ein. Jungfrauenchöre, Geistliche, Edelleute, Offiziere und Schulkinder warten auf ihren Einsatz in der Willkommenszeremonie. Für ein aufwühlendes Ereignis wie eine Hungersnot und ein Jubelfest handelt es sich um eine erstaunlich nüchterne und zurückhaltende Darstellung. Die gesamte Bildkomposition von der distanzierenden Totale über die Farbgebung und das bürgerliche Publikum bis zur konservativen Architektursymbolik unterstützt dieses Bildprogramm. Das Leiden der Notzeit wird visuell ebenso ausgeschlossen wie die Leidenden selbst.
Solche Bilder sind typisch für die Hungerkrise 1816/17. Visualisierungen von Verarmung, Migration, Krankheiten oder Hungertoten sind kaum überliefert. Viel wichtiger schien es, in diesen Bildern die politisch, klimatisch und sozial erschütterte Ordnung dieser Zeit symbolisch wiederherzustellen. Der Festumzug materialisierte die sozialen Hierarchien im Stadtraum, die Bilder festigten sie in der Erinnerung. Die Käufer konnten durch den Kauf der Lithografie an dieser Ordnung teilhaben und sie zugleich materiell stützten – ein Teil des Verkaufspreises diente „wohlthaetigen Zwecken“. Den Ausschnitt, in dem Müller den Zug durch die Stadt zeigte, dürfte er sehr bewusst gewählt haben. Denn die das Bild flankierenden Türme von Schloss und Kirche erinnerten den Betrachter an das segensreiche Wirken des neuen Königshauses und des Klerus – zweier Institutionen, die in der Krise zunehmend unter Druck geraten waren.
Genau wie Texte, Messreihen und dendrochronologische Daten stellen solche Bilder eine Quelle mit Unschärfen, Tendenzen und begrenzter Reichweite dar. Sie illustrieren, dass auch extreme Naturereignisse historische Gesellschaften nicht einfach trafen, sondern durchaus eigensinnig angeeignet werden konnten. Um dieser Pluralität sozialen Handelns, diesen „Klimakulturen“ gerecht zu werden, sind integrative Zugänge zu historischen Mensch-Umwelt-Beziehungen nötig, die Natur- und Geisteswissenschaften stärker als bisher miteinander in Dialog bringen.
Daten und Fakten
Forschernachwuchsgruppe „Umwelt und Gesellschaft. Handeln in Hungerkrisen der Frühen Neuzeit“, Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg http://www.hce.uni-heidelberg.de/jrg/facingfamine.html
Die Forschergruppe untersucht die historische Verflechtung von Mensch und Natur. Der Fokus liegt auf Hungersnöten als einer Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen, untersucht werden Regionen in Europa und Indien. Das Team ist interdisziplinär zusammengesetzt und verknüpft Paläoklimatologie und Geschichtswissenschaft. Es forscht am Heidelberg Center for the Environment (HCE), das die natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Umweltforschung an der Universität Heidelberg bündelt.
Ein Beitrag von Dr. Dominik Collet und Maren Schulz, B.A.