„ein bogen papyr und ein wenig dinten“

Eine neue Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erschließt die Briefwechsel von südwestdeutschen Theologen (1550 – 1620)

35.000 Briefe aus 70 Jahren in einer Datenbank: Sie werden Auskunft geben über Bündnisse und Konkurrenz protestantischer Theologen, die ihre Netzwerke über ganz Europa spannten.

Im 16. Jahrhundert gab es noch keine Zeitungen im heutigen Sinne, die über wichtige Neuigkeiten informierten. Reisen war eine mühevolle, zeitraubende und mitunter gefährliche Angelegenheit. Die persönliche oder berufliche Kommunikation zwischen Personen, die nicht am selben Ort lebten, fand vor allem durch Briefe statt. Diese konnte man anderen Reisenden mitgeben oder von regelmäßig verkehrenden Kurieren überbringen lassen. Die Humanisten hatten den Brief als Medium wiederentdeckt und nutzten ihn, um die angestrebte Erneuerung von Bildung und Wissenschaften zu verbreiten. Die Reformatoren konnten daran anknüpfen: Nicht nur der Buchdruck, sondern auch intensiv gepflegte Korrespondenzen trugen dazu bei, die Ideen der Reformation zu verbreiten. Man informierte sich gegenseitig, gab sich Rat in strittigen Angelegenheiten, warb um Unterstützung und schmiedete Bündnisse. So schrieb der Arzt und reformierte Kirchenrat Thomas Erastus (1524–1583), der in Heidelberg in den Diensten Kurfürst Friedrichs III. von der Pfalz stand, am 13. April 1577 an Graf Georg Ernst von Henneberg, dessen Leibarzt er zuvor gewesen war. Er gab seinem früheren Dienstherrn nicht nur den Ratschlag, er solle „des morgens weniger essen und durchaus das trincken, als vil müglich, meiden“, sondern kam auch auf den Konfessionswechsel in der Kurpfalz zu sprechen. Nachdem Friedrich III. innerhalb von rund 15 Jahren die reformierte Lehre in der Kurpfalz eingeführt hatte, wandte sich sein Nachfolger Ludwig VI. wieder dem Luthertum zu. Erastus fürchtete daher um seine Anstellung in Heidelberg. Er unterstrich gegenüber dem Henneberger Grafen, dass die Obrigkeit „keines menschen hertz, gedancken und gewissen zwingen“ könne. Für den Fall, dass Ludwig VI. ihn entlassen würde, bat er darum, bei ihm am Hof in Meiningen unterkommen zu können.


Thomas Erastus (1524–1583) (Foto: Kunstmuseum Basel)

Thomas Erastus (1524–1583), Porträt von Tobias Stimmer 1582. Unter Kurfürst Friedrich III. war er maßgeblich am Übergang der Kurpfalz zum reformierten Bekenntnis beteiligt. Als ihn dessen Nachfolger Ludwig VI. auf die lutherische Konkordienformel verpflichten wollte, folgte Erastus 1580 einem Ruf als Professor für Ethik nach Basel. (Foto: Kunstmuseum Basel)

Brief von Johannes Brenz und Jacob Andreae (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, HStA Stuttgart)

Johannes Brenz (links) und Jacob Andreae (rechts) bitten Herzog Christoph von Württemberg im Januar 1565 um schriftliche Fürsprache, die ihn „nicht mehr denn ein bogen papyr vnd ein wenig dinten vnd wachs kostet“, zugunsten eines aus Wesel geflohenen Mannes. Der habe seinen kranken Sohn nicht vom Ortspfarrer, „der jm des nachtmals vnd tauffs halben suspect gewesen“, taufen lassen. Seine Güter wurden daraufhin beschlagnahmt, er musste Frau und Kind zurücklassen. Brenz und Andreae bürgen für die Rechtgläubigkeit des Mannes und bitten den Herzog von Württemberg, er solle sich beim Herzog von Cleve für ihn einsetzen. (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, HStA Stuttgart)

Johannes Brenz (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, HStA Stuttgart)
Jacob Andreae (Foto: Universitätsbibliothek Tübingen)
Brief von Bartholomäus Pitiscus (1561–1613) (Foto: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Dessau)

Der Heidelberger Mathematiker und Theologe Bartholomäus Pitiscus (1561–1613) schickt drei Exemplare seiner Schrift „Antwort Der Heidelbergischen Theologen auf die Continuationem Examinis“ an Johann Georg von Anhalt-Dessau. Sie ist Teil einer publizistischen Kontroverse zwischen den lutherischen württembergischen und den reformierten Heidelberger Theologen. Pitiscus bittet den Fürsten, ein Exemplar an den Herzog von Holstein zu schicken, der – selbst mit konfessionellen Auseinandersetzungen konfrontiert – möglicherweise aus der Heidelberger Schrift Nutzen ziehen könne. Über einen Buchhändler in Leipzig, so Pitiscus, seien jedenfalls noch genügend Exemplare erhältlich. (Foto: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Dessau)


Manche Briefe von Theologen bieten auch ausführliche Gutachten zu kontrovers diskutierten konfessionellen, gesellschaftlichen und politischen Themen. Ein Beispiel hierfür sind die Briefe, die der württembergische Reformator Johannes Brenz (1499–1570) mit Joachim Camerarius, Professor in Leipzig, wechselte. Beide tauschten sich 1552/53 intensiv über den sogenannten „Osiandrischen Streit“ aus. In dieser Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre vertrat Andreas Osiander eine von Luther und Melanchthon abweichende Haltung. In den Briefen, die Brenz an Camerarius und andere schickte, drückt er seine Haltung aus, die zwischen beiden theologischen Auffassungen vermittelte. An den Anfang von gedruckten Schriften gestellte Widmungsbriefe schließlich formulieren programmatische Intentionen oder legen Interessen offen.

Fast alle Briefe liegen nur handschriftlich und vielfach schwer lesbar vor. Nicht zuletzt deshalb werden Korrespondenzen der Frühen Neuzeit so gut wie gar nicht digitalisiert. Obwohl Briefe eine besonders wichtige historische Quelle sind, bleiben sie vom Digitalisierungsschub der letzten eineinhalb Jahrzehnte weitgehend ausgeschlossen.

Spannungen zwischen Reformierten und Lutherischen

Diesem Mangel wird ein neues Forschungsvorhaben der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zum Thema „Theologenbriefwechsel im deutschen Südwesten 1550–1620“ abhelfen. Ziel ist die möglichst vollständige Erfassung der Briefe aller leitenden Geistlichen und Theologieprofessoren der Kurpfalz (mit der Universität Heidelberg), Württembergs (mit der Universität Tübingen) und Straßburgs (mit der dortigen Akademie).

Bei der Ausbildung der Konfessionen in den Territorien spielten die dort amtierenden Theologen eine Schlüsselrolle. Nachdem die Kurpfalz erst spät, im Jahr 1556, die Reformation eingeführt hatte, wurde sie von 1559 an zum wichtigsten Territorium calvinistisch-reformierter Konfessionalisierung im Reich. Das Herzogtum Württemberg, das seit 1534 von einem evangelischen Herzog regiert und dessen Kirchenwesen ab 1553 von Johannes Brenz neu organisiert wurde, führte in Auseinandersetzung mit der Kurpfalz die lutherische Konfessionalisierung an. In der Reichsstadt Straßburg lebten aufgrund des vielschichtigen theologischen Erbes Martin Bucers (1491–1551) Anhänger beider Lager in spannungsvollem Miteinander. Sie standen zudem in regem, gelegentlich konfliktbeladenem Austausch sowohl mit der Kurpfalz als auch mit Württemberg.

Deshalb ist der Blick auf den Südwesten des Reichs in besonderem Maße lohnend: Hier lässt sich auf engem Raum exemplarisch die produktive Konkurrenzsituation der entstehenden Konfessionen beobachten. Zudem war die Region von Straßburg im Westen bis Ulm und Augsburg im Osten sowie von Heidelberg im Norden bis Konstanz und Basel im Süden für die Ausbildung der Konfessionen in Europa von besonderer Bedeutung. Der deutsche Südwesten war nicht nur wirtschaftlich stark, da sich hier diverse europäische Handelsrouten kreuzten und die Städte prosperierten. Er war auch ein intellektuelles und publizistisches Zentrum: Bereits zur Zeit des Humanismus wirkten hier herausragende Gelehrte wie Erasmus von Rotterdam (Basel), Johannes Reuchlin (Pforzheim, Tübingen, Stuttgart, Heidelberg) oder Jakob Wimpfeling (Schlettstadt, Straßburg, Heidelberg). Auch im 16. und frühen 17. Jahrhundert blühten Schulen, Universitäten und Druckerwerkstätten (z. B. in Straßburg, Basel, Ulm und Augsburg). So entfalteten die reformatorischen Modelle des Südwestens eine durchaus internationale Ausstrahlung: Die Straßburger Reformation prägte die Theologie Johannes Calvins (1509–1564), am württembergischen Vorbild orientierten sich diverse andere Territorien im Reich, und die Kurpfalz war bis 1620 eine Bastion des europäischen Reformiertentums.


Politische Karte vom Südwesten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahre 1547. (Foto: F.W. Putzgers historischer Schul-Atlas 1918)

Politische Karte vom Südwesten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahre 1547. (Foto: F.W. Putzgers historischer Schul-Atlas 1918)


Briefkontakte quer durch Europa

Aus diesen Gründen ist es vielversprechend, die Briefe jener Theologen, die vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Südwesten des Reichs wirkten, zu erfassen. Zu nennen wäre zum Beispiel der aus Schlesien stammende, seit 1561 in Heidelberg wirkende Zacharias Ursinus (1534–1583), Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus von 1563, eines der wichtigsten reformierten Bekenntnisse (vgl. Momente 2/2013). In Württemberg arbeitete Jakob Andreae (1528–1590), der langjährige Kanzler der Universität Tübingen, unermüdlich am Abschluss der lutherischen Bekenntnisbildung in Gestalt der Konkordienformel von 1577, die die endgültige Abgrenzung von den Reformierten bedeutete. Straßburger Theologen wiederum wirkten vor oder nach ihrer Tätigkeit in der elsässischen Reichsstadt häufig in Württemberg oder der Kurpfalz. So wechselte der italienische Glaubensflüchtling Girolamo Zanchi (1516–1590) nach seiner Anstellung als Theologieprofessor an der Straßburger Akademie 1568 an die Universität Heidelberg. Der in Lindau geborene Johannes Pappus (1549–1610) erhielt seine Ausbildung in Tübingen und wurde 1578 in Straßburg Theologieprofessor an der Akademie sowie Präsident des Kirchenkonvents. Philipp Marbach (1550–1611) hatte in Tübingen studiert und zeitweise in Heidelberg gewirkt, bevor er schließlich als Nachfolger seines Vaters Professor für Theologie in seiner Heimatstadt Straßburg wurde.


Johannes Marbach (1521–1581) (Foto: Wikipedia)

Johannes Marbach (1521–1581) amtierte seit 1552 als Präsident des Straßburger Kirchenkonvents. Er unterhielt weitreichende Kontakte zu den reformierten Theologen in der Kurpfalz und den württembergischen Lutheranern. (Foto: Wikipedia)


Einige der Theologen, deren Briefwechsel im Rahmen des Projekts erfasst werden, unterhielten überraschend umfangreiche und weitverzweigte Korrespondenznetzwerke. Nicht nur die Zahl der Briefe, die sie schrieben und erhielten, ist beachtlich, auch die Distanzen, die diese Briefe zurücklegten, sind beeindruckend. Von einflussreichen Persönlichkeiten wie Johannes Brenz, Tilemann Heshusius (1527–1588) oder Johannes Marbach (1521–1581) sind jeweils mehrere hundert Briefe überliefert. Sie hatten zahlreiche Kontakte im gesamten Reich. Dies gilt auch für den Tübinger Jakob Andreae: Im Auftrag der württembergischen Herzöge bereiste und beriet er zahlreiche Städte in Württemberg, aber auch Herrscher in Sachsen und Norddeutschland. Zudem korrespondierte er mit vielen weiteren Kurfürsten, Herzögen und Grafen im Reich, ja sogar mit den Königen von Dänemark und Frankreich. Zusammen mit seinen Kollegen von der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen trat er mit den Protestanten in Innerösterreich (im heutigen Slowenien) und dem Patriarchen von Konstantinopel in brieflichen Kontakt. Auch manche Heidelberger Theologen bauten bei der Suche nach Allianzen bemerkenswerte Netzwerke auf: David Pareus (1548–1622), über zwanzig Jahre Theologieprofessor an der Universität, und Abraham Scultetus (1566–1624), der wie Ursinus und Pareus aus Schlesien stammte, hatten Briefpartner in der Schweiz, in den Niederlanden, in England, Frankreich und mehreren osteuropäischen Ländern.

Die Briefe dieser und anderer südwestdeutscher Theologen offenbaren ihre Motive und Ziele sowie ihre Rolle als Berater der politischen Machthaber. Zudem zeigen sie, wie modernisierend die konfessionelle Vereinheitlichung der Territorien in der Frühen Neuzeit gewirkt hat. Bei genauer Analyse geben die Briefe auch Hinweise auf das Verhältnis von Konfessionalisierung und Säkularisierung am Beginn der modernen Staatlichkeit. In der heutigen Forschung ist umstritten, ob diese beiden Prozesse sich gegenseitig ausschließende Alternativen waren oder ob gerade in ihrem Zusammenspiel wichtige Weichenstellungen auf dem Weg zum modernen westlichen Staat, wie wir ihn kennen, erfolgten. Die Analyse der Theologenbriefwechsel soll dazu beitragen, diese Frage zu klären.

Da Korrespondenzen dann besonders aussagekräftig sind, wenn sie vollständig erfasst und ausgewertet werden, strebt das Projekt die Zusammenstellung eines umfangreichen Textkorpus an. Die erwähnte repräsentative Gruppe von leitenden Geistlichen und Theologieprofessoren der Kurpfalz, Württembergs und Straßburgs umfasst ungefähr 185 Personen. Deren Briefwechsel sollen auch vor und nach ihrer Tätigkeit im deutschen Südwesten erfasst werden, um langfristige Entwicklungen sichtbar zu machen.

Ein Beitrag von Dr. Sabine Arend, Dr. Stephen E. Buckwalter, Dipl.-Theol. Daniel Degen, Max Graff M.A., Paul Neuendorf M.A. und Prof. Dr. Thomas Wilhelmi in Momente 3|2017.

Daten und Fakten zum Forschungsvorhaben „Theologenbriefwechsel“

2017 an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gegründet, angelegt auf 15 Jahre. Leitung durch Prof. Dr. Christoph Strohm, Kirchenhistoriker an der Universität Heidelberg, Bearbeitung durch vier wissenschaftliche Mitarbeitende und drei Doktoranden/-innen. Ziel: Briefe aller führenden Theologen und kirchenleitenden Persönlichkeiten der Kurpfalz, Württembergs und Straßburgs in den Jahren von 1550 bis 1620 erfassen, erschließen und teilweise edieren. Datengrundlage sind rund 35.000 Briefe von ca. 185 relevanten Personen. Erfassung der Basisdaten (Absender, Adressat, Datum, Schlagworte zum Inhalt etc.) in einer Datenbank, Wiedergabe eines Teils der Briefe als Digitalisat, Transkription einer begrenzten Auswahl. Kommentierte Edition von rund 1.000 besonders relevanten Briefen. Zentrale Forschungsfragen und Promotionsvorhaben im Projekt richten sich auf den Zusammenhang von Konfessionalisierung, Territorialstaatsbildung und Säkularisierung. Auch sollen die Korrespondenznetzwerke der südwestdeutschen Theologen rekonstruiert und analysiert werden.

Theologenbriefwechsel im Südwesten des Reichs in der Frühen Neuzeit (1550–1620)
Heidelberger Akademie der Wissenschaften
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