52 Monate Heimatfront unter der Lupe

Das innovative historisch-kulturelle Langzeitprojekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ steht kurz vor dem Abschluss

Vor vier Jahren begannen Stadtarchiv und Stadtmuseum in Esslingen ein beispielloses Projekt. Jeden Monat erinnern ein neues Thema und zahlreiche Veranstaltungen an den Ersten Weltkrieg.

Das ebenso ansprechende wie militaristische Kinderbuch „Heil und Sieg!“ des Esslinger J. F. Schreiber Verlags von 1915/16 war im Projekt ein „Objekt des Monats“.
Das ebenso ansprechende wie militaristische
Kinderbuch „Heil und Sieg!“ des Esslinger J. F.
Schreiber Verlags von 1915/16 war im Projekt ein „Objekt des Monats“.

Ein gedruckter Mobilmachungsaufruf, hunderte Briefe einer jungen Mutter an ihren Mann an der Front, das niedlichmilitaristische Kinderbuch „Heil und Sieg!“ des renommierten J. F. Schreiber- Verlags, ein Minenwerfer aus der Produktion der Maschinenfabrik Esslingen, das blutgetränkte Verbindungsband eines Studenten oder das Reisetagebuch einer Krankenschwester auf einem Lazarettzug – alle diese Objekte stammen aus den Jahren 1914 bis 1918, alle haben direkten Bezug zu Esslingen und alle sind integraler Bestandteil des historisch- kulturellen Langzeitprojekts „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“.

Warum aber „52 x“? Der Titel bezieht sich auf die Dauer des Krieges, auf 52 lange Monate vom August 1914 bis zum November 1918. Die 52 Kriegsmonate gaben das Maß vor für die ungewöhnliche Dauer des Projekts, das am 2. August 2014 begann und am 9. November 2018 endet – mit der Eröffnung einer Ausstellung im Esslinger Stadtmuseum und der Vorstellung einer Publikation zum gesamten Projekt.

Ebenfalls Objekt des Monats: Das an der Westfront durchschossene und blutverschmutzte Couleurband des aus Esslingen stammenden Theologiestudenten Eugen Wagner kündet von dessen Verbundenheit mit der Tübinger Verbindung „Normannia“.
Ebenfalls Objekt des Monats: Das an der Westfront durchschossene und blutverschmutzte Couleurband des aus
Esslingen stammenden Theologiestudenten
Eugen Wagner kündet von dessen Verbundenheit mit der Tübinger Verbindung
„Normannia“.

Der Ausgangspunkt war: Man weiß viel zu wenig über die Weltkriegsepoche im städtischen Kontext. Wie aber konnte man die Esslinger Dimension intensiver erforschen und dauerhaft in die Stadterinnerung zurückholen? Weder eine wissenschaftliche Publikation noch symbolische Handlungen oder eine Ausstellung im Stadtmuseum hätten dieses Ziel erreicht. Darum votierten sowohl die Stadtspitze in Person des Oberbürgermeisters Dr. Jürgen Zieger als auch die kooperierenden Institutionen Kulturamt, Stadtarchiv und Stadtmuseum für ein Projektdesign, das historische Forschung mit der Thematisierung überzeitlicher Fragen und nachhaltig wirkender Öffentlichkeitsarbeit verbindet.

Das Rückgrat des Projekts ist jeweils ein „Objekt des Monats“ mit Esslinger Weltkriegs- Bezug, das ausgewählt, erforscht und allmonatlich öffentlich vorgestellt wird. Die – am Ende – 52 Objekte repräsentieren bewusst eine radikal lokale und vorwiegend zivilistische Sicht auf den Krieg. Im Fokus 

steht die Lebenswirklichkeit an der Esslinger „Heimatfront“ – ergänzt um Seitenblicke auf die reale Front, soweit es Esslinger Soldaten betrifft. Es war durchaus anspruchsvoll, Objekte und Archivalien auszuwählen, die dieser Selbstbeschränkung genügen und trotzdem eine große Bandbreite an Themen – vom Ersatzmehl bis zum Flirt im Krieg, von der Rüstung bis zur Todesnachricht – vor Augen stellen.

Die Stadt Esslingen legte im Ersten Weltkrieg keine Kriegssammlung an. Und auch in späteren Jahren lag das Augenmerk beim Objekterwerb des Stadtmuseums nicht auf den Jahren 1914 bis 1918. Ähnlich bescheiden ist die schriftliche Überlieferung im Stadtarchiv. Auch deshalb war das Projekt „52 x Esslingen“ der Anlass, Daten, Fakten und Zusammenhänge zu ermitteln, aber auch Archivalien und Objekte mit Esslinger Bezug ausfindig zu machen – zuerst in den eigenen Magazinen und Depots, dann in anderen Archiven, Museen und natürlich in Privatbesitz.

2014 gehörte der Erste Weltkrieg kaum mehr zur öffentlich und privat erinnerten Geschichte – zumindest in Deutschland, wo er von der bleibenden Präsenz des Zweiten Weltkriegs überlagert wird. „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ war und ist deshalb auch ein Beitrag zur kommunalen Erinnerungskultur, der Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen soll, ihre familiäre Erinnerung zu durchforsten. Dies gelingt vor allem über die Vorstellung der Objekte des Monats, die immer am ersten Dienstag des Monats im Stadtmuseum stattfindet. Dank des festen Termins hat sich über die Jahre ein „harter Kern“ von Interessierten gebildet, ergänzt durch Zuhörerinnen und Zuhörer, die wegen ihres Interesses an einem bestimmten Objekt oder einer sie berührenden Thematik kommen. Außerdem wird jedes Objekt ausführlich in der „Eßlinger Zeitung“ präsentiert. Das steigert die Reichweite des Projektes und hat schon manche Leserin und manchen Leser dazu bewegt, die Projektpartner wegen eines Weltkriegsfundes im Familienbesitz zu kontaktieren.

Zwar haben Notzeiten, Metall- und Wertstoffablieferungen im Krieg, Erbgänge, Umzüge, Ignoranz, Geschmackswandel und Aufräumaktionen aller Art die Suche nach privaten Überbleibseln erschwert. Trotzdem war es oft positiv überraschend, dass der Erste Weltkrieg in der Erinnerung wie auf Dachböden doch nicht ganz verschwunden ist. In jedem Fall ist die anhaltende Teilnahme der Esslingerinnen und Esslinger ein wichtiger Eckpfeiler des Erfolgs von „52 x Esslingen“ geworden. So konnten die lückenhaften städtischen Bestände und Sammlungen um bislang unbekannte Objekte und schriftliche Quellen erweitert werden. Manche dieser privaten „Schätze“ gelangten zur Ehre einer Vorstellung als „Objekt des Monats“ – in Anwesenheit der Leihgeber immer wieder Höhepunkte des Gesamtprogramms. Und die Erfahrung lehrt: Oft sind es historisch speziell versierte Laien, die sich bei lokalen Themen extrem gut auskennen und im Projekt hervortun. Zur Freude aller Beteiligten hat in der Stadt weder das Interesse am Projekt nachgelassen noch ist ein „Nicht-schon-wieder-Weltkrieg- Reflex“ entstanden.

Entscheidend für den Erfolg ist auch die hervorragende Zusammenarbeit der beteiligten kommunalen und bürgerschaftlichen Institutionen. Sie ist in Esslingen seit Langem vertraute Praxis und entspricht dem Selbstverständnis der städtischen wie freien Kulturinstitutionen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Stadtarchiv und Stadtmuseum bilden das personelle Zentrum des Projekts, unterstützt von Christine Beil (2014 bis 2017) und Harald Haury (2016 bis 2018) als freiberuflichen wissenschaftlichen Beratern.

Zur Vermeidung einer Nabelschau werden permanent auswärtige Wissenschaftler verschiedener Disziplinen eingebunden, die den Blick auf die Esslinger Objekte schärfen. So beteiligten sich unter anderem die Porzellanexpertin Silvia Glaser vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg oder Sven Lüken, Militariaexperte des Deutschen Historischen Museums in Berlin, denen der Esslinger Stab des Projekts jeweils ergänzende lokale Vorrecherchen zur Verfügung stellte. Ausgesprochen große Resonanz fanden die Überblicksvorträge von Prof. Gerd Krumeich aus Freiburg, der jedes Jahr die wesentlichen Elemente eines Kriegsjahres beleuchtete und dessen mitreißende Auftritte sich zu einer eigenen „Marke“ innerhalb des Projektes entwickelt haben.

Umrahmt werden die historischen Veranstaltungen von einem reichen Kulturprogramm, das vom Esslinger Kulturamt initiiert, durchgeführt und – wie das gesamte Projekt – mit professionellem Marketing begleitet wird. Über 100 Veranstaltungen mit Musik, Theater, Performance, Kunst und Film sorgten zusammen mit diversen Lesungen und Workshops für eine vielfältige kulturelle Auseinandersetzung mit der Weltkriegsepoche. So gelang es, Zielgruppen anzusprechen, die mit historischen Diskursen allein nicht zu erreichen sind. Dabei ist es immer wieder erstaunlich, wie die künstlerische Aufarbeitung eines historischen Themas Fragen und Impulse freisetzt, die in die geschichtswissenschaftliche Betrachtung zurückwirken. Besonders gelungen war etwa die lange Nacht „Club Dada 100“ im Jahr 2016. Sie konfrontierte in einem Poetry Slam Werke des Dadaismus mit Texten heutiger Autoren und Performer. Der multimediale Musiktheater- Abend „Strawinsky:animated“ brachte dessen Kammeroper „Die Geschichte vom Soldaten“ 100 Jahre nach ihrer Uraufführung im Jahr 1917 neu auf die Bühne. Auch der Themenschwerpunkt zum Völkermord an den Armeniern im Kommunalen Kino, der in einer prominent besetzten Diskussionsrunde mündete (an der u.a. der Grünen-Politiker Cem Özdemir teilnahm), steht exemplarisch für die Aufarbeitung brisanter historischer Ereignisse. Das im Mai 2018 gezeigte Puppentheater „Selbstbildnis als Soldat“ der Kompanie 1/10, eine alptraumhafte, aus Text und Musikfragmenten arrangierte Collage über die Traumatisierung von Soldaten und Zivilbevölkerung anhand von Motiven aus dem Werk Ernst Ludwig Kirchners, führte eindrücklich die psychischen Belastungen der damaligen Zeitgenossen vor Augen.

Die lange Projektdauer mit ihrem monatlichen Voranschreiten erleichtert es Akteuren, Publikum und Lesern zunehmend, die Totalität des Krieges wahrzunehmen und anhand einer Vielzahl von Ereignissen, Themen, Schicksalen, Bildern und Objekten nachzuvollziehen, wie die Zivilgesellschaft allmählich in eine Kriegsgesellschaft transformiert wurde. Und – ebenso banal wie eindrucksvoll: Die Kongruenz von Weltkriegs- und Projektdauer verändert Zeitgefühl und Wahrnehmung und macht beinahe fühlbar, was die lange Kriegsdauer für die Menschen an der „Heimatfront“ oder die Soldaten in den Schützengräben bedeutet haben muss. Das Projekt unterstützt dies, indem Objekte und Weltkriegsgeschichte möglichst parallel geführt werden: Im August 2014 war ein Mobilmachungsplakat das erste Objekt, im November 2018 wird die Revolution thematisiert werden.

Das kleinschrittige, sich von Objekt zu Objekt und Thema zu Thema entwickelnde Vorgehen hat ein Wissensnetz über die Esslinger Verhältnisse im Ersten Weltkrieg gewoben, das sich ständig erweitert. Es wird durch weitere, abseits der Objekte gewonnene Informationsfäden verdichtet. So fließt die laufend erarbeitete Esslinger Weltkriegschronologie, die auf einem Touchscreen im Museum abgerufen werden kann, in die historischen Miniaturen ein, die auf den Werbemitteln des Projektes zu lesen sind. Die Chronologie wird auch in der abschließenden Begleitpublikation abgedruckt werden, ebenso Auszüge aus den eingangs erwähnten 700 Briefen der Esslingerin Gertrud Förster an ihren Ehemann.

Unverzichtbar für ein Projekt mit so ausgedehnter Laufzeit und so vielen Formaten ist ein stringentes Erscheinungsbild. So sind die unverwechselbar gestalteten gedruckten Handouts zu jedem Objekt inzwischen selbst beliebte Sammelobjekte geworden. Sie sind mittlerweile auf der Homepage des Projekts abrufbar und werden das Rückgrat der abschließenden Publikation bilden. Die außergewöhnlich prägnante grafische Gestaltung der zahlreichen Plakate, Flyer sowie der Objekt-Präsentation im Stadtmuseum hat mit Tobias Schwechheimer (Agentur „Zeilenbau“, Stuttgart) ein Gestalter von hoher konzeptioneller Konsequenz entworfen.

Genau hundert Jahre, nachdem Igor Strawinsky seine „Geschichte vom Soldaten“ für eine kleine Wanderbühne geschrieben hatte, wurde sie in Esslingen in Kooperation mit dem PODIUM Esslingen zeitgemäß aufgeführt.
Genau hundert Jahre, nachdem Igor Strawinsky
seine „Geschichte vom Soldaten“ für eine kleine
Wanderbühne geschrieben hatte, wurde sie
in Esslingen in Kooperation mit dem PODIUM
Esslingen zeitgemäß aufgeführt.

„52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ hat keine Meistererzählung, kein stimmiges Narrativ zum Ziel, sondern webt als kommunales historisches Projekt in einem offenen Prozess kontinuierlich ein Netz aus privaten und öffentlichen Erinnerungen, aus lokaler und nationaler Geschichte, aus ziviler und militärischer, aus geschlechter- und generationenspezifischer Sichtweise auf den Krieg. Als Projektgedächtnis fungiert die „Aufbewahrung“ der bislang gezeigten Objekte in einem Raum des Esslinger Stadtmuseums im Gelben Haus. Sie bleibt als Provisorium bewusst ohne Inszenierung. Anders dann die resümierende, gleichzeitig aber eigenständige und thematisch weiterführende Abschlussausstellung unter dem Titel „1914–1918. Esslingen und der Erste Weltkrieg. Heimatfront und Zeitenwende“, die am 9. November 2018 ebenfalls im Stadtmuseum eröffnet wird.

Neben der Ausstellung steht als integraler Bestandteil und Ergebnissicherung des Projekts die Begleitpublikation. Der reich bebilderte Band wird im Thorbecke-Verlag erscheinen und neben den Präsentationen der 52 Objekte auch wissenschaftliche Aufsätze zum Projekt und zur Geschichte Esslingens im Ersten Weltkrieg enthalten.

Auf diese Art gleichermaßen doppelt abgerundet kann das Projekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ ein Teil der Stadtgeschichte und der Stadterinnerung werden. So endet das Projekt dann doch ganz klassisch: mit einer Ausstellung und einem wissenschaftlichen Begleitband. Beides sind bleibende Beiträge – neben der nicht messbaren Veränderung des historischen Bewusstseins in der Stadt. Unter den zahllosen 

historischen Projekten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs, die in deutschen und europäischen Städten stattgefunden haben und stattfinden, ist die Unternehmung „52 x Esslingen“ mit Sicherheit einzigartig.

Ein Beitrag von Martin Beutelspacher M.A. und Dr. Joachim J. Halbekann in Momente 3|2018.

Daten und Fakten zum Projekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“:

Historisch-kulturelles Langzeitprojekt von Kulturamt, Stadtarchiv und Stadtmuseum Esslingen am Neckar. Projektdauer: 52 Monate von August 2014 bis November 2018, analog der Dauer des Ersten Weltkriegs.

Jeden Monat wird ein authentisches, bislang unbekanntes Esslinger Objekt im Stadtmuseum mit einem Vortrag vorgestellt und anschließend in einer wachsenden Ausstellung präsentiert. Fast alle kulturellen Einrichtungen in Esslingen bereichern das Projekt durch kulturelle Veranstaltungen (Kino, Theater, Kunstausstellungen, Konzerte etc.).

Das nachhaltige kommunale Geschichtsprojekt mündet im November 2018 in der Vorstellung einer umfangreichen Publikation und der Eröffnung der Ausstellung: „1914 – 1918. Esslingen und der Erste Weltkrieg. Heimatfront und Zeitenwende“. https://52x.esslingen.de