Missivenbücher und Einbandmakulatur
Ein Buch aus dem Kloster Buxheim beim Memmingen nutzt ein liturgisches Fragment aus dem 13. Jahrhundert als Einbandbezug.
Ein Buch aus dem Kloster Buxheim beim Memmingen nutzt ein liturgisches Fragment aus dem 13. Jahrhundert als Einbandbezug.

Die Universität Stuttgart ist den meisten als eine der T-7-Hochschulen, der führenden technisch ausgerichteten Universitäten Deutschlands, ein Begriff. Dass es hier auch eine agile philosophisch-historische Fakultät mit einem aktiven historischen Institut gibt, ist der Öffentlichkeit viel weniger präsent. Viel zu wenig ist im Bewusstsein, welche Schätze europäischer Schriftkultur in Stuttgart und Umgebung überliefert sind. Die zum Weltdokumentenerbe gehörende Goldene Bulle Kaiser Karls IV. im Hauptstaatsarchiv Stuttgart ist dabei nur der vielbeschworene Gipfel eines Eisberges.

Mit der Württembergischen Landesbibliothekbibliothek und ihren großen Beständen mittelalterlicher Handschriften und Frühdrucken sowie dem Landesarchiv Baden-Württemberg mit dem

Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind gleich zwei Aufbewahrungsorte mittelalterlicher Originalmaterialien internationalen Ranges direkt vor Ort. Wenige Stationen mit der S-Bahn entfernt sind das Staatsarchiv Ludwigsburg und das Stadtarchiv Esslingen. Während Ludwigsburg wichtige Archive aus den nach 1803 an Württemberg gefallenen Herrschaften verwahrt, ist das mittelalterliche Archiv der alten Reichsstadt Esslingen eines der reichsten und wichtigsten Stadtarchive Süddeutschlands. Gegenüber dem Sitz des heutigen Stadtarchivs liegt in sicherer Höhe im Südturm von St. Dionysius noch der sogenannte „Stein“, ein feuersicheres Gewölbe des 14. Jahrhunderts, nur über den Lettner zu erreichen und von schmiedeeisernen Türen mit mehreren Schlössern und schweren Gittern gesichert. Hier verwahrte die Reichsstadt bis ins 19. Jahrhundert hinein die wichtigsten Urkunden als Garanten ihrer Rechte und Freiheiten.

Unser historisches Wissen beruht auf der reflektierten und methodisch abgesicherten Auswertung der verschiedenen Quellen, die uns überliefert sind. Historiker interessieren sich zuvorderst für die schriftlichen Quellen. Für die Zeit der griechischen und römischen Antike sind (mit Ausnahme der Inschriften, die immer wieder bei Ausgrabungen gefunden werden) die Schriftquellen so gut wie komplett wissenschaftlich erschlossen und sogar in viele Sprachen übersetzt. Für das Früh- und Hochmittelalter ist zumindest ein Gutteil der Quellen ediert. Für die Zeit ab dem 13. Jahrhundert liegt aber die Anzahl der voll erschlossenen, edierten Texte allenfalls im Promillebereich. Noch immer stößt man in Archiven und Bibliotheken auf Schachteln und Mappen, in die seit Jahrzehnten oder gar seit der ersten rudimentären Erfassung im frühen 19. Jahrhundert nie wieder jemand hineingeschaut hat.

Doch so einfach ist es gar nicht, mit diesen Dokumenten umzugehen. Oft auf Latein oder Mittelhochdeutsch verfasst, sind sie durchwegs handschriftlich überliefert. Und die Bandbreite der Handschriftlichkeit ist groß: von der schnellen, flüchtigen Notiz mit zahlreichen Abkürzungen bis hin zum Prachtcodex mit farbigem Buchschmuck. Man muss die Schrift entziffern, Abkürzungen auflösen und die Sprache übersetzen können. Die fortschreitende Digitalisierung solcher Quellen hat die Zugänglichkeit revolutioniert. Mit nur wenigen Mausklicks kann man sich die wertvollsten und empfindlichsten Handschriften auf den Bildschirm holen und durchscrollen. Aber was nutzt das, wenn man die Schrift nicht lesen und den Text nicht übersetzen kann

Zum traditionellen Handwerkszeug der Historiker gehören daher die sogenannten Historischen Hilfswissenschaften. Es geht unter anderem darum, alte Schriften zu entziffern, zu datieren und zu lokalisieren sowie um die Fähigkeit, Fälschungen zu entdecken. Da diese Kenntnisse für Historiker so wichtig sind, sprechen wir auch von Historischen Grundwissenschaften. Deutschland war seit dem 19. Jahrhundert in diesem Wissenschaftsgebiet weltführend. Noch heute müssen deshalb Absolventen der französischen École des Chartes, der berühmten Ausbildungsstätte für Archivare und Bibliothekare, Deutsch lernen. Dessen ungeachtet sind in Deutschland die meisten Lehrstühle für diese Disziplinen in den letzten zwei Jahrzehnten abgeschafft oder umgewidmet worden. Auch die Universität Stuttgart macht da leider keine Ausnahme.

So wichtig theoretische Konzepte auch sind, ist es doch das eigentliche historische Arbeiten, den Materialien Antworten auf aktuelle Forschungsfragen zu entlocken. Und da ist noch viel zu tun. Ein Beispiel aus dem Arbeitsbereich der Stuttgarter Mittelalterforschung: Im Esslinger Stadtarchiv liegen die sogenannten Esslinger Missivenbücher, in denen der Stadtschreiber seit den 1420er-Jahren die Briefe vermerkte, die die Stadt an ihre Partner, Helfer, Gegner und Feinde versandte. Die ältere Geschichtsforschung nutzte die vielen Tausend Einträge (die übrigens noch weitestgehend der Entzifferung harren) als Steinbruch für die politische Geschichte oder für die Biografie des berühmten Humanisten Niklas von Wyle, der über lange Jahre diese Bücher führte.

Heute stellen wir ganz andere Fragen. Im Zeitalter von Facebook und WhatsApp interessieren wir uns für Netzwerke, Informationsflüsse und Kommunikation. Was hielt man in Esslingen offiziell für wichtig, mit wem tauschte man Informationen aus, wer waren wichtige und regelmäßige, wer nur seltene Korrespondenzpartner? Nicht nur der Text gibt wichtige Hinweise. Ein geschultes Auge kann die einzelnen Schreiber voneinander unterscheiden, kann identifizieren, wer was eingetragen hat. War es ein Hilfsschreiber, war es der Stadtschreiber selbst? Welche Texte wurden mehrfach überarbeitet? Hat man die Handschrift benutzt?

Über spätere Randnotizen, Stichwort- und Inhaltsverzeichnisse kann man der konkreten Nutzung der Schriftstücke nachgehen und so die Verwaltungspraxis früherer Zeiten, über die wir fast nichts wissen, rekonstruieren. Wieder mag man einwenden: Wen interessiert schon Verwaltungspraxis? Für die Beurteilung der Quellen ist aber notwendig zu wissen, wofür sie benutzt wurden. Hat man alles oder nur das Wichtigste in die Missivenbücher eingetragen? Sind die Einträge selektiv oder repräsentativ? Bis in das Persönliche hinein gehen die Aussagemöglichkeiten. So wissen wir dank der Analyse der Esslinger Missivenbücher, dass sich der Humanist Niklas von Wyle regelmäßig in den Ratssitzungen langweilte, denn er verzierte seine Protokolleinträge mit bizarren Zeichnungen.

Nicht nur, dass mittelalterliche Handschriften und Urkunden leicht zugänglich sind und jederzeit Kontakt zu Bibliotheken, Museen und Archiven möglich ist, macht Stuttgart zum idealen Jagdgebiet für Spezialisten dieser Materialien. Weitere kompetente Ansprechpartner für die mittelalterliche Überlieferung sind die Kunstakademie mit ihrer Expertise zu Konservierung und Restaurierung wertvollen Kulturgutes, das Institut für Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut in Ludwigsburg sowie das Landesamt für Denkmalpflege in Esslingen. Die technischen Fächer an der Universität Stuttgart – von der Softwarearchitektur über die akustische Bauphysik bis hin zu den materialanalytischen Kenntnissen der Werkstoffkunde – geben viele Möglichkeiten, den Fragen- und Methodenkanon der Geschichtswissenschaften zu erweitern, spannende Kooperationen einzugehen und die alten Dokumente mit neuem Blick zu betrachten. Diese für Lehre und Forschung im internationalen Maßstab höchst attraktive Konstellation wird seit 2014 nach der Neubesetzung des Lehrstuhls Mittlere Geschichte mit neuem Schwung genutzt. Über das Normalstudium hinaus sollen Studierende an moderne Fragestellungen und alte Dokumente herangebracht werden, um die hervorragenden Möglichkeiten um Stuttgart nutzen zu können. Dafür wurde die Stuttgarter Mittelalterwerkstatt eingerichtet.

Ein weiterer Schwerpunkt der aktuellen Arbeiten sind Handschriftenfragmente, wissenschaftlich sprechen wir von Makulatur. Unter Makulatur versteht man „recyceltes“ Pergament. Für Buchbinder war das stabile Pergament ein wertvolles Material, das sie für eine Vielzahl von Aufgaben benutzen konnten: als Umschläge für Akten und billige Bücher, zur Verstärkung der Holzdeckeleinbände, als Vorsatzblätter oder in kleine Streifen geschnitten als Rückenverstärkung. Auch wenn sie ihren unmittelbaren Zweck verloren hatten oder verschlissen waren, hatten mittelalterliche Handschriften also weiter einen materiellen Wert. Das große Zeitalter der Makulierungen waren das 16. und 17. Jahrhundert. Mit dem Buchdruck ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts standen textidentische Exemplare zur Verfügung, die zwar zunächst ebenso teuer waren wie Handschriften, aber als zuverlässiger galten. Gerade für Texte, bei denen es auf Genauigkeit ankam – in der Liturgie und im Recht – setzte man schnell auf Drucke. Die Reformation bedeutete dann in evangelischen Gebieten für viele Klosterbibliotheken das Ende und die katholischen Liturgiebücher verschwanden unter dem Messer der Buchbinder. Auch in katholischen Gebieten brachte die neue Liturgie des Trienter Konzils neue gedruckte Bücher und setzte die Handschriften frei.

Hier setzt ein weiteres Stuttgarter Projekt an: Bei Workshops in Archiven und Bibliotheken finden und identifizieren wir Pergamentmakulatur, suchen neue digitale Wege der Bearbeitung und Erschließung und untersuchen sogar manchmal Stücke mittels 14-C-Analyse. Nach bisherigen Arbeiten in Archiven in Stuttgart und Esslingen und Sondierungen in Buxheim und Isny planen wir derzeit ein größeres Projekt mit der Historischen Ratsbibliothek Lindau. Systematisch wollen wir den Altbestand von etwa 12.000 Bänden durchsehen, um zu untersuchen, was wann in der evangelischen Reichsstadt makuliert wurde.

Daten und Fakten

Stuttgarter Mittelalterwerkstatt für Studienanfänger, Doktoranden, Lehrstuhlmitarbeiter sowie auswärtige Wissenschaftler/-innen: ohne ECTS-Punkte und Pflichten, mit wissenschaftlichen Vorträgen, Exkursionen und gemeinsamen Arbeitssitzungen in den Archiven. Arbeit an einem konkreten Thema, derzeit Schrift und Schriftgut in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Esslingen. Enge Kooperation mit dem Stadtarchiv Esslingen und dem Staatsarchiv Ludwigsburg. Die Ergebnisse sollen in einer größeren Veröffentlichung und einer Ausstellung auch der Öffentlichkeit präsentiert werden.

http://www.uni-stuttgart.de/himg/Aktivitaeten

Ein Beitrag von Prof. Dr. Mark Mersiowsky in Momente 4|2016.