Nach einer Kritik des von Hansmartin Decker- Hauff geprägten Begriffs „Ehrbarkeit“ entscheidet sich Nina Kühnle in ihrer Kieler Dissertation für die alternative Verwendung von „städtischer Führungsgruppe“ bzw. „Stadtelite“. Entsprechend dem Titel baut sie ihre Arbeit in drei großen Themenblöcken auf: Der erste Teil fragt nach den Beziehungen von Landesherrschaft und Städten, der zweite Teil beschreibt die städtischen Führungsgruppen, der dritte schildert dann chronologisch das Zusammenwirken von Stadteliten und Herrschaft in den Landständen in der durchaus turbulenten Entwicklung Württembergs von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Rückkehr Herzog Ulrichs 1534.
Der erste Abschnitt konzentriert sich auf den Erwerb von Städten durch die Herrschaft Württemberg. Im Untersuchungszeitraum unterstanden ihr zumindest zeitweise bis zu 80 Städte. Die weitaus meisten kamen durch Kauf oder Pfand (ca. 50), nur wenige durch eigene Gründung (ca. 10), einige weitere als Mitgift (Stuttgart!), Erbschaft oder Eroberung dazu. Schließlich gingen auch einige Städte wieder verloren.
Bei der Charakterisierung der städtischen Führungsgruppen thematisiert Kühnle zunächst die zu vergebenden Ämter (Richter, Vogt, Keller usw.), dann die wirtschaftlichen Grundlagen der Elite (wofür die Informationen eher spärlich fließen), die Heirats- und Familienbeziehungen, die repräsentativen Investitionen zu Lebzeiten (Häuser) und nach dem Tod (Epitaphe,
Stiftungen), die Bildungswege (Universitätsbesuch), den Zugriff auf kirchliche Pfründen und schließlich den sozialen Aufstieg in den Adel. Die genannten Themen werden durch vier Fallstudien über die Städte Stuttgart, Brackenheim, Nagold und Münsingen vertieft. Je nach Quellenlage, die sich von Stadt zu Stadt erheblich unterscheidet, rückt der eine oder andere Aspekt in den Vordergrund.
Der dritte Großabschnitt schließlich zeichnet das Verhältnis der städtischen Eliten zur Landesherrschaft nach. Bemerkenswert sind hierbei vor allem die divergierenden Interessen zwischen Städten unterschiedlicher Bedeutung (Stuttgart und Tübingen an der Spitze), innerhalb der städtischen Führungsgruppen und der städtischen Bevölkerungen sowie der Landbevölkerung. Die Eliten nahmen dabei die sehr problematische Rolle einer Mittlerinstanz zwischen Landesherr und Stadt einerseits, Stadt und Stadtgemeinde andererseits ein.
Insgesamt liefert Nina Kühnle aufschlussreiche neue Ergebnisse zur Formierung der städtischen Führungsgruppen in Württemberg. Schwierig ist z.T. die Abstützung der Thesen durch Quellen: So sind die Aussagen über Familienbeziehungen oft recht vage, da sich die Heiratsverbindungen über Schwestern und Töchter nicht nachvollziehen lassen. Namensgleichheiten allein sind schließlich kein Nachweis für besonders enge Verwandtschaft.
Ein Beitrag von Dr. Andreas Maisch in Momente 4|2018.
Wir, Vogt, Richter und Gemeinde. Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250 – 1534). Von Nina Kühnle. Ostfildern: Thorbecke 2017. 533 S., 28 teils farbige Abb., ISBN 978-3-7995-5278-3, 58 €