Die Frau, die die Hexenprozesse beendete
Christina Rauscher wird um 1570 als Tochter des reichen Tuchhändlers und Brauers Martin Gerber und seiner Frau Anna Kuner in Horb geboren. Horb gehört damals zur Grafschaft Hohenberg, einer der Herrschaften des katholischen Schwäbisch-Österreich, und untersteht dem habsburgischen Erzherzog von Tirol und seiner Regierung im fernen Innsbruck. Christina heiratet den Horber Gastwirt Johann Rauscher, dem das Wirtshaus „Zum Goldenen Schaf“ gehört.
Wegen seiner rücksichtslosen Geschäftspraktiken gerät ihr Vater Martin Gerber immer wieder mit dem
Horber Stadtrat aneinander. Er setzt sich jedoch stets durch, indem er sich bei der Innsbrucker Regierung über den Stadtrat beschwert. In den Augen der führenden Horber Familien macht ihn das zum „Verräter“, der sich mit der immer stärker werdenden Staatsgewalt gegen die Interessen seiner Heimatstadt verbündet. Christina unterstützt ihren Vater in diesem Konflikt aktiv und lässt ein Komplott des Rates gegen ihre Familie auffliegen.
1598 werden Gerüchte laut, Christina und ihre Mutter seien Hexen. In Horb sind zu dieser Zeit schon etwa 40 vermeintliche Hexen hingerichtet worden. Auch Personen aus wohlhabenden Familien wie Christina sind vor den Verfolgungen nicht sicher. Christina wirft dem Rat und dem Schultheiß, der strikt den Wünschen der Ratsfamilien folgt, Verleumdung vor. Daraufhin lässt der Rat Christina und ihren Mann zeitweilig verhaften, um sie einzuschüchtern, auch wird Rauscher wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Als Innsbruck droht, gegen den Stadrat zu ermitteln, wird Christina Rau scher 1604 in einer überfallartigen Aktion wegen Hexereiverdachts verhaftet.
Das weitere Verfahren gegen sie ist auch nach den Maßstäben des 17. Jahrhunderts illegal. Obwohl ihr Mann loyal für ihre Freilassung kämpft, ist Christina fast ein Jahr lang eingekerkert. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung ist Christina hochschwanger. Sie wird mehrfach gefoltert, so stark und so schwer, dass sich schließlich selbst der Henker weigert, die Anweisungen der Ratsherren und des Schultheißen auszuführen. Christina Rauscher verliert ihr Kind auf der Folter. Sie überlebt aber Haft und Tortur, ohne sich ein Geständnis abpressen zu lassen. Nachdem der Rat sie endlich freilässt, verklagt Christina das Gremium wegen Rechtsmissbrauchs.
Bis zum Ende ihres Lebens führt sie bei der Regierung in Innsbruck unermüdlich Klage über das Unrecht, das ihr und anderen vermeintlichen Hexen widerfahren ist. 1607 erreicht sie, dass der gesamte Stadtrat ausgetauscht wird. Der Schultheiß wird seines Amtes enthoben. Ein neues Gesetz verbietet es, Hexereidenunziationen öffentlich zu machen. 1609 gewährt der Erzherzog persönlich Christina eine Audienz: Sie erhält den Auftrag, wegen Justizvergehen zu ermitteln – eine Frau als „Regierungskommissarin in eigener Sache“ ist in der Geschichte der deutschen Hexenprozesse einmalig. Als Christina und ihr Mann 1618 in Innsbruck sterben, sind die Hexenverfolgungen in der Grafschaft Hohenberg bereits weitgehend zusammengebrochen. Die schwere Prozesswelle der 1620er-Jahre, die andere Teile Deutschlands heimsucht, findet hier dank der Initiative von Christina Rauscher und ihrem Mann nicht mehr statt. Heute ist nach Christina Rauscher in Horb eine Straße benannt.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Johannes Dillinger in Momente 2|2017.