Am 15. Januar 1919 tritt erstmals eine Frau ans Redepult eines deutschen Parlaments. In der ersten Sitzung der badischen Nationalversammlung in Karlsruhe ergreift Marianne Weber selbstbewusst das Wort und bedeutet ihren Kollegen unmissverständlich: Bei der Gestaltung des Staats haben sie es künftig mit gut vorbereiteten Frauen zu tun.
Zunächst führt Marianne Webers Lebensweg über Stationen, die für eine Tochter aus gutbürgerlichem, betuchtem Hause typisch sind: Auf den schulischen Feinschliff in einem Hannoveraner Mädchenpensionat 1887–89 folgen das Haustochterdasein in der Familie einer Tante zu Hause in Oerlinghausen, Unterricht bei einem Kunstmaler in Berlin (1892) und schließlich 1893
eine standesgemäße Partie. Der vielversprechende junge Universitätsprofessor Max Weber wird eine Karriere machen, die ihn – und mit ihm seine Ehefrau – von Berlin über Freiburg nach Heidelberg führt. Doch die „Gefährtenehe“ der beiden entspricht nicht dem klassischen Muster. Die besondere Beziehung lässt Marianne Weber Raum für wissenschaftliche Studien und das Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung. Ihre Untersuchung über „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ (erschienen 1907) gilt bis heute als grundlegend. Über ihren Wohnort Heidelberg hinaus macht sie sich einen Namen als Aktivistin und Publizistin für die Sache der Frau. Auch parteipolitisch ist sie interessiert, wirkt gleich während des Umsturztrubels im November 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei mit, kandidiert erfolgreich für das Karlsruher Parlament. Dort beschränkt sich Marianne Weber nicht darauf, schmückendes parlamentarisches Beiwerk zu sein.
Auf ihre Initiative hin werden „vier unscheinbare Wörtlein“ in den badischen Verfassungsentwurf aufgenommen: Durch die Ergänzung „ohne Unterschied des Geschlechts“ sind alle badischen Staatsangehörigen ohne Wenn und Aber gesetzlich gleichgestellt (und nicht nur „grundsätzlich“ wie nach der Weimarer Verfassung). Sie ist auch die treibende Kraft hinter einem fraktionsübergreifenden Antrag der badischen Parlamentarierinnen (eingereicht am 13. Juni 1919, wie es scheint der erste dieser Art). Schließlich regt das „einzige Hühnchen im Korbe“ der DDP-Fraktion, wie sie sich selber augenzwinkernd nennt, eine Gesetzesvorlage für ein Nachrückverfahren an, um den Anteil weiblicher Abgeordneter während einer Legislaturperiode zu erhalten – und stößt bei ihren Fraktionskollegen wegen der „Privilegierung des weiblichen Geschlechts“ auf völliges Unverständnis. Dabei sieht Marianne Weber eine Frauenquote von 10 bis 15 Prozent im Großen und Ganzen als ausreichend an. Als vorrangige Aufgabe der Mandatsträgerinnen nennt sie, „die besonderen Fraueninteressen und den ‚weiblichen Kulturwillen‘ zur Geltung [zu] bringen“.
Prinzipiell ist Marianne Weber von der unterschiedlichen Wesensart von Männern und Frauen und ihren verschiedenen gesellschaftlichen Aufgaben überzeugt. Diesen Grundsatz beherzigt sie unhinterfragt auch für ihre eigene Lebensführung. Um ihrem Mann nach München zu folgen, beendet Marianne Weber im Sommer 1919 ihr parlamentarisches Gastspiel. Frauenpolitisch bleibt sie dennoch zunächst bis 1924 als Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine aktiv. Doch nach Max Webers Tod 1920 wird sie vorrangig zu dessen eifriger Nachlassverwalterin und geachteten Biografin. Durch ihr Dazutun rückt sie als eigenständige Publizistin, engagierte Frauenrechtlerin und Parlamentarierin der allerersten Stunde in den Hintergrund. Marianne Weber stirbt am 12. März 1954 in Heidelberg und ist wie ihr Mann auf dem dortigen Bergfriedhof begraben.
Ein Beitrag von Dr. Sybille Oßwald-Bargende in Momente 1|2019.