Gustav Jaeger und die Firma Benger verschafften der süddeutschen Trikotwarenindustrie mit wollener Unterwäsche den Durchbruch.
Als württembergischer Pfarrerssohn 1832 geboren, hätte Gustav Jaeger eigentlich auch Pfarrer werden sollen. Im theologischen Seminar von Urach aber hielt er es nicht lange aus. Er zog nach Stuttgart, wo er einen Verleger kennenlernte, der ihm das Medizinstudium in Tübingen finanzierte. Für das anschließende Praktikum zog es ihn nach Wien, wo er 1857 promoviert wurde. Dort entdeckte Gustav Jaeger eine neue Bestimmung – die des akademischen Lehrers auf dem Gebiet der Zoologie. Mit Unterstützung einiger Geldgeber eröffnete er 1860 das erste Seewasseraquarium im europäischen Binnenland, aus dem später der Tiergarten im Prater entstand. Sein Enthusiasmus für dieses Unternehmen und eine wohl sichere zoologische Karriere in Wien endeten, als 1866 der deutsch-österreichische Krieg ausbrach.
Jaeger kehrte mit seiner jungen Familie zurück nach Stuttgart, wo er seine Tätigkeit an der land- und forstwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim begann. 1869 folgte er dem Ruf ans Königliche Polytechnikum in Stuttgart, wo sein Lehrauftrag unter anderem „Gesundheitspflege“ umfasste. Zunehmend setzte er sich in seinen Vorlesungen mit Problemen der Hygiene auseinander.
Da Bakterien und Viren als Krankheitserreger damals noch unbekannt waren, lag es für einen Hygieniker nahe, sich auf die natürlichen Widerstandskräfte des Menschen zu konzentrieren. Daher verschrieb sich Jaeger zunächst der körperlichen Ertüchtigung. Im Dauerlauf hatte er die nächste Erleuchtung und erkannte, „welch alberne, heillose Einrichtung unsere
sogenannte Kulturkleidung ist“. Das Hauptproblem schien ihm das Material zu sein, und was lag für einen begeisterten Zoologen näher, als die Lösung im Tierhaar und damit in Wolle zu sehen. „Der Weise wählt Wolle“ erklärte Jaeger und predigte fortan, dass Wolle „abhärtend wirke, dass sie infolge der von ihr verursachten stärkeren Hautdurchblutung und erhöhten Hautthätigkeit … den Menschen nicht nur gegen Erkältungskrankheiten, sondern auch gegen Seuchen widerstandsfähiger zu machen vermöge.“
Damit jedoch aus der Heilslehre des Wollregimes tatsächlich ökonomische Realität werden konnte, bedurfte es eines Anstoßes von außen. Am 1. März 1879 erhielt Jaeger eine schicksalhafte Sendung von der Firma Wilhelm Benger Söhne. Sie enthielt verschiedene aus Wolle gewirkte Trikotteile und ein Schreiben mit der Bitte, die Teile „einer genauen Prüfung zu unterwerfen“.
Ein paar Monate später wurde die geschäftliche Verbindung vertraglich besiegelt. Geburtshelfer dieser Liaison war der Präsident der Königlich Württembergischen Zentralstelle für Handel und Gewerbe, Ferdinand Steinbeis. Jaeger selbst hatte es als Aufgabe des Staates angesehen, sein Wollregime bei der Bevölkerung durchzusetzen. Steinbeis überzeugte Jaeger davon, dass allein privates unternehmerisches Engagement seiner Sache zum Durchbruch verhelfen könne. In einem Nachruf auf Steinbeis erinnert sich Jaeger 1893 daran: Er „stellte mir vor, dass all mein Thun und Treiben in Wort und Schrift ganz vergeblich sei, solange ich mich nicht mit praktischen Geschäftsleuten in Verbindung setze, denn es habe keinen Zweck, eine Sache zu empfehlen, die man nicht kaufen könne … ein Erfolg einer solchen Verbindung mit Geschäftsleuten sei nur dann zu erwarten, wenn Geschäftsvorteile damit verbunden seien, denn ohne solche nehme kein Geschäftsmann sich der Sache an.“
In der vertraglichen Vereinbarung auf alle unter seinem Namen verkauften Produkte ist die Rede von drei Prozent Tantiemen für Jaeger. Bei einem Jahresumsatz von mehreren Millionen Mark, der schon in den frühen 1880er-Jahren erzielt wurde, war Jaeger schnell ein wohlhabender Mann; umgerechnet auf heutige
Verhältnisse erhielt er zu dieser Zeit wohl gut eine halbe Million Euro pro Jahr. Der Erfolg der Geschäftsverbindung Jaegers mit Wilhelm Benger Söhne übertraf alle Erwartungen. Der endgültige Durchbruch kam mit der württembergischen Landesgewerbeausstellung 1881 in Stuttgart. Die Öffentlichkeit reagierte begeistert und auch Berühmtheiten wie Robert Bosch warben für die Jaeger’sche Kleidung.
Das Jaeger’sche Wollregime legte die Saat für eine Blütezeit der württembergischen Trikotagenindustrie. Diese Blütezeit fiel in eine Phase gesamtwirtschaftlicher Stagnation, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauerte. Von diesem antizyklischen Hoch profitierten nicht nur die Produzenten und Trikotwarenhändler, sondern eine ganze Zulieferindustrie von Karton-, Nadel- und Maschinenfabriken.
Prospekt um 1915
Karte der Firma Wilhelm Benger Söhne mit Materialmustern aus der Zeit um 1910. In bis zu acht verschiedenen Wollqualitäten waren die Jaeger‘schen Unterwäschemodelle erhältlich.
Typoskript von Jaegers Autobiografie, die er mit der Geschichte seiner Wiege beginnt: Eine befreundete Familie hat sie weiterbenutzt und er liebte und heiratete später das Mädchen, das nach ihm darin gelegen hatte.
Abschrift des Briefes, mit dem die Firma Wilhelm Benger Söhne am 1. März 1879 einige Hemden und Hosen zur Begutachtung an Jaeger schickte, um ihn von den Vorteilen der Maschenware gegenüber Flanell zu überzeugen.
Gravierend war auch Jaegers Exporterfolg. Seit einem Exklusiv-Lizenzvertrag zwischen den Gebrüdern Benger und einer Londoner Textilfirma boomte die Auslandsnachfrage, und schon bald war das Exportgeschäft lukrativer als der heimische Markt. „Wir haben fast in jeder großen und kleinen Stadt von Großbritannien und Irland entweder eigene Depots oder Agenturen eröffnet.“ Mehr als tausend Vertreter hatte „Dr. Jaegers Sanitary Woollen System Company“ zeitweise auf der Insel, es gab sogar Filialen in Australien und in Kanada. „A new gospel has reached us from Germany“, schrieb die ehrwürdige Times 1884; George Bernard Shaw und Oscar Wilde gehörten zu Jaegers prominenten Befürwortern.
Die Gründe für den Erfolg in England lagen in einer deutlich offensiveren Geschäftspolitik des englischen Lizenznehmers, der den Vorteil hatte, dass alle Artikel exklusiv von einer Filialkette vertrieben wurden. Fünf Jahre Garantie erhielt man in England auf jedes Teil, wenn es mit dem firmeneigenen Waschmittel gewaschen wurde. Zwar hatte man auch in Deutschland versucht, mit dem „System Prof. Dr. Jaeger“ Markenbewusstsein zu bilden. Einen einheitlichen Vertrieb jedoch gab es in Deutschland nicht, denn Gustav Jaeger ging mit Konzessionen für seine Artikel recht freizügig um – sehr zum Leidwesen der Gebrüder Benger, denen er vertraglich Exklusivrechte zugesichert hatte. Und neben diesen Konzessionären gab es noch Markenpiraten. Auch wenn Jaeger und Benger immer wieder gerichtlich dagegen vorgingen – das Geschäft mit den Imitaten blühte genauso wie das mit den Originalen.
Trotz des ökonomischen Erfolgs und seines Engagements in Sachen Wollregime verlor Gustav Jaeger das große Ganze nie aus den Augen. Geradezu hellsichtig wirken heute seine Stellungnahmen aus einer Zeit, in der die technisch-wissenschaftliche Medizin gerade erst zu ihrem Siegeszug aufbrach. „Wann wird man endlich einsehen,“ so fragte Jaeger, „dass ein Lebewesen, namentlich ein solches wie der Mensch, trotz seiner außerordentlich komplizierten Zusammensetzung eine Einheit ist? Ein Arzt, der mit nichts als dem herkömmlichen Wissen von Physik, Chemie und Physiologie … vor einem reperaturbedürftigen Menschenkind steht,“ kam ihm schon damals „genauso hilflos vor, wie ein Grobschmied vor einer Taschenuhr“.
In England vertriebene Jaeger- Modelle für Kinder (1911)
In England vertriebene Jaeger- Modelle für Herren (1911)
In England vertriebene Jaeger- Modelle für Damen (um 1930)
Titelseite der „Jaeger Fashion Revue“, ein Kundenkatalog aus den 1930er-Jahren.
Ein Beitrag von Jutta Hanitsch in Momente 2|2018.
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… im Bestand N 12 Gustav Jaeger. Im Privatnachlass eines Wirtschaftsprüfers tauchten vor einigen Jahren wertvolle Dokumente auf: Als Nachlassverwalter war er in den 1970er-Jahren in den Besitz der Verträge von Gustav Jaeger mit Benger gekommen. Das Originalmanuskript der Autobiografie von Jaeger befand sich ebenso in den Unterlagen wie eine Überlieferung zum Rechtsstreit über die Lizenzen von Jaeger London. Das Wirtschaftsarchiv – eine Stiftung der Industrie- und Handelskammern in Baden-Württemberg und des Landes – hat die Dokumente übernommen und stellt sie der Forschung zur Verfügung.
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