Verbesserungen gibt es auf jeden Fall

30.11.2010 
Redaktion
 
Mutmaßungen über Geißlers Schlichterspruch

Stuttgart. Viele preiswerte Wohnungen für Familien im neuen Stadtteil, vom Spekulationsdruck befreite Grundstücke, ein zusätzliches Kontrollsystem im Fildertunnel, Nachrüstungen für den Evakuierungsfall, eine behindertengerechte Ausstattung und vor allem bessere, zuverlässigere Anschlüsse im neuen Durchgangsbahnhof mit der europaweit einmaligen Schräge von sechs Metern auf 400 Metern: An der einen oder anderen Stelle hat Heiner Geißler schon durchblicken lassen, was er sich vorstellt. Heute mittag wird er – natürlich live im Fernsehen übertragen - seinen Spruch verkünden.

Befürworter wie Gegner erwarten Nachbesserungen. Die einen rechnen damit, sie ohne allzu großen zusätzlichen Finanz- und Planungsaufwand schultern zu können. Noch am Montag soll hinter den Kulissen heftig gerungen worden sein. Die anderen hegten bis zuletzt die Hoffnung, das Milliardenprojekt zu stoppen - der vielen neuen Millionen wegen, die fällig würden, müsste die Bahn des Schlichters Ideen in die Tat umsetzen. Noch am Samstag, als Tübingens OB Boris Palmer die vielen Lücken im Fahrplan der Bahn auf den künftigen acht Geleisen unter der Erde analysierte, hatte Geißler von „absolut bemerkenswerten und bedenkenswerten Hinweisen“  gesprochen, die der Bahn „als Hausaufgabe überreicht“ würden, um „Abhilfe zu schaffen“.

In der Theorie ist nichts einfacher als das. Die Projektträger müssten sich nur zu ihren ursprünglichen, gerade auch von Stuttgart-21-Urvater Gerhard Heimerl ins Spiel gebrachten Plänen zurückkehren und im neuen Bahnhof zehn statt acht Gleise bauen. Und die Zulaufstrecken großzügiger auslegen als derzeit vorgesehen. Der jahrelange Finanzierungpoker zwischen Bahn, Bund, Stadt und Land hat aber zu eben jenen Abstrichen geführt, deren Konsequenzen jetzt von Palmer bloßgelegt wurden - ohne nennenswerten Widerspruch der Bahn. Sollte Geißler – unter anderem - tatsächlich die beiden zusätzlichen Gleise vorschlagen, wird das zwar auch die für die Fahrpläne der Bahn Verantwortlichen freuen. Zugleich allerdings würden Nachverhandlungen unter den Trägern fällig. Denn deren Rücklagen im Risikofonds des Milliardenprojekts sind schon jetzt auf unter 500 Millionen Euro geschmolzen.

Eines der drei Wirtschaftsprüferbüros, das im Rahmen der Schlichtung in die Bücher der Bahn und des Projekts schauen durfte, geht sogar von weniger als 400 Millionen Euro aus. Nicht eben üppig, angesichts beispielsweise des unbestritten schwierigen Untergrunds der Landeshauptstadt mit ihren Dolinen und Verwerfungen. In der sechsten Runde am Runden Tisch  mussten die Befürworter einräumen, dass ein minimales Restrisiko für die Stuttgarter Mineralquellen – immerhin die zweitgrößten Vorkommen in Europa – bleibt. Das sei allerdings zu vernachlässigen und beherrschbar, sagen von der Bahn beauftragte Geologen und Juristen. Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) hatte eine „konkrete Gefährdung unseres Mineralwassers“ als „absolutes K.o.-Kriterium für Stuttgart 21“ bezeichnet. Nicht mehr und nicht weniger.

Schuster war selten dabei, Ministerpräsident Stefan Mappus zweimal, Umweltministerin Tanja Gönner dagegen immer, ebenso wie der Technikvorstand der Bahn Volker Kefer. Diese beiden wurden schnell zu den maßgeblichen Figuren unter den sieben Verhandlern auf der Pro-Seite der Schlichtung. Andere schwiegen mehr oder weniger hartnäckig. Regionalpräsident Thomas Bopp (CDU) ergriff keine fünf Mal das Wort, Wolfgang Arnold von den Stuttgarter Straßenbahnen nie. Ganz anders auf der Seite der Gegner. Die bunte Truppe konnte auch und gerade jene mit Fachkenntnis überzeugen, die vor der Schlichtung der Meinung anhingen, der Protest gegen das Projekt habe sich eben allzu spät und erst nach Baubeginn formiert. Bestes Beispiel: Der Verkehrsplaner Gerhard Hickmann, der bereits 1995 mit der Hand jene Skizzen zeichnete, die jetzt computeranimiert für K 21 werben sollten.

Kopfbahnhof 21. Die Variante konnte die Stuttgart-21-Befürworter nicht wirklich überzeugen. Weil zu wenig Gelände für die Stadtentwicklung bleibt, weil die Anbindung zur Neubaustrecke nicht einfach ist und jahrelang neu geplant werden müsste. Und dann sind da noch die Ausstiegskosten. Die Bahn rechnet mit einer siebenstelligen Summe, die, wie Kefer unmissverständlich einräumte, auch in voller Höhe eingeklagt würden. „Eine Tasche, andere Tasche“, konterte einer der Zuschauer im der Öffentlichkeit zugänglichen, immer gut besuchten dritten Stock des Rathauses, „weil der Steuerzahler dann den Steuerzahler klagt.“

Insgesamt hat das Verfahren, das Geißler so gerne zum Prototyp („Stuttgarter Modell“) entwickeln möchte, Akteuren und Publikum in den mehr als 70 Sitzungsstunden viel zugemutet. Am Samstag, zum guten Schluss,  wurde es mit einem Schlag ganz einfach: Jeder konnte sich selber prüfen, welcher Fahrgast-Typ er ist, und daraus seine Haltung zu den beiden Bahnhofsvarianten – Kopf oder Durchgang – ableiten. Gerade aus Sicht der Bahnkunden zerpflückte Tübingens grüner OB Boris Palmer den Fahrplan für das unterirdische Bauwerk am Stuttgarter Schlossgarten derart profund, dass Bahnvorstand Volker Kefer verbal den Hut zog:  „Herr Palmer, ich zolle Ihnen Respekt, das ist eine gute Arbeit, wollen Sie bei uns als Planer anfangen?“

Er wollte nicht, sondern stellte den K-21-Taktfahrplan der Gegner vor. Danach halten sich, ganz anders als im Durchgangsbahnhof, zwei Mal pro Stunde zur Minute 15 und zur Minute 45 möglichst viele Züge im Bahnhof auf, um möglichst viele Anschlüsse zu organisieren. Das hat seinen Preis. Selbst die  sehr schnellen ICE, zum Beispiel zwischen Stuttgart und Mannheim, fahren zwei oder drei Minuten langsamer, als sie eigentlich könnten, und sie stehen, wie viele andere Züge, länger im Bahnhof. „Wir wissen aus Fahrgastbefragungen, dass Schnelligkeit oberste Priorität hat“, wandte Kefer ein. Jahrelange Praxis zeige, wie wichtig Bahnfahrern stressfreies Reisen sei, konterte Palmer: „Ihre Kunden wollen vor allem den nächsten Anschluss erreichen.“  Und noch einmal kam Kefer ihm entgegen: Die Bahn werde in ihre eigenen Planungen noch einmal „genauer hineinschauen“ und die Kapazitäten noch einmal untersuchen. Das allerdings kann – siehe oben – teuer werden.


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