Der Grat zwischen Lehren und Beeinflussen ist oft Schmal

15.04.2014 
Redaktion
 
Politische Bildung
Foto: dpa

Stuttgart. Vor fast vier Jahrzehnten schrieb der Beutelsbacher Konsens die gemeinsame Überzeugung der Beteiligten fest, dass Schüler im Unterricht nicht indoktriniert werden dürfen. Im Streit um die Bildungsplanreform wird die Auslegung des Überwältigungsverbots wieder aktuell.

Der Tübinger Professor Hans-Wehling trug maßgeblich dazu bei, dass im Jahr 1976 in Beutelsbach (Rems-Murr-Kreis) jene Einigung auf „Grundprinzipien des modernen Politikunterrichts“ zustande kam (siehe Kasten unten). In einer Zeit voller gesellschaftlicher Debatten sollte eine pragmatische Grundlage für den Umgang mit kontroversen Positionen entstehen.

Schüler, so erinnert sich Wehling, sollten befähigt werden, sich zu orientieren und selber zu entscheiden. Ein Satz, den Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auch im aktuellen Konflikt verwendet. Ausdrücklich findet der Beutelsbacher Konsens sich auch im neuen Bildungsplan wieder. Weil es allerdings kein Leitprinzip, neuerdings Leitperspektive genannt, zum Demokratieverständnis gibt, wird die Thematik unter dem Stichwort Verbraucherbildung abgehandelt.

Wann die Grenze zur Beeinflussung überschritten wird, ist oft unklar

Schon vor einem Jahr hatten Experten im Reformbeirat – darunter Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenwschaft (GEW) Baden-Württemberg – angemahnt, dass für die Suche nach demokratischer Orientierung ein eigenes Leitprinzip angebracht sei. Ende Februar hatte sie Kultusminister Andreas Stoch (SPD) noch einmal eine Überarbeitung vorgeschlagen – schon damals unter dem Eindruck der Aufregung um die sexuelle Vielfalt.

Die Aufnahme von entsprechenden Kompetenzen und „ihre Integration in die vorliegenden Leitprinzipien ist, wie die öffentliche Diskussion zeigt, misslungen“, schrieb die GEW-Landesvorsitzende. Ihre Idee der Umformulierung ist inzwischen von Kultusminister Stoch umgesetzt.In der Unterrichtspraxis wird sich für Lehrkräfte dennoch und vor allem bei der Vermittlung unzähliger anderer Detailkompetenzen die Fragen stellen, wann die Grenze zur Indoktrination berührt oder gar überschritten wird.Siegfried Schiele, einst Chef der Landeszentrale für politische Bildung, erläutert, dass die jungen Menschen „in ihrer Meinung nicht beeinflusst, sondern dazu angeregt werden sollten, ihren Verstand und ihre Urteilskraft zu verwenden“.

Selbstbestimmtes Verhaltender Verbraucher wird gefördert

Ein Beispiel von vielen aus dem vorpolitischen Raum: Ist eine Diskussion über Massentierhaltung mit drastischer Bebilderung bereits der Versuch der Beeinflussung oder notwendig, um zur Entscheidung zu befähigen? Die Verbraucherbildung habe „die Entwicklung eines selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Verbraucherverhaltens zum Ziel“, heißt es im Entwurf des Bildungsplans.Verbraucherbildung als lebenslanger Prozess „stärkt Kinder und Jugendliche in ihren Alltagskompetenzen, so dass sie ihr Leben eigen- und sozialverantwortlich sowie selbstbestimmt führen können“. Und weiter: „Bei der Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern wird das Gebot der Neutralität angewendet.“

In einschlägigen Foren bereits heftig diskutiert, welche der zu Perspektiven mutierten Leitprinzipen Kinder und Jugendliche womöglich nicht nur informieren, sondern auch beeinflussen. In den Blick gerät die „Bildung zur nachhaltigen Entwicklung“, wo es im Vorwort unter anderem heißt: „Neben dem Erwerb von Wissen über (nicht-) nachhaltige Entwicklungen gilt es die Bereitschaft zum Engagement, den Umgang mit Risiken und Unsicherheit sowie Einfühlungsvermögen in die Lebenslagen anderer Menschen und eine solide Urteilsbildung in Zukunftsfragen zu entwickeln.“ Unstrittig ist, dass dies mit allen Fächern verwoben werden muss.

Bildungsexpertin und Journalistin Heike Schmoll, die sich intensiv mit Details des Reformwerks befaßt hat, bewertet Aufbau und Inhalte mit Blick auf eine mögliche Vereinnahmung äußerst kritisch: „Wer das liest, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass es sich eher um ein in den Lehrplan umgewandeltes Parteiprogramm handelt als um Bildungsziele.“

Der Beutelsbacher Konsens ist das Ergebnis einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg mit Politikdidaktikern im Herbst 1976 in Beutelsbach. Darin wurden Grundsätze für die politische Bildung festgelegt. Die Vereinbarung umfasst drei Punkte.
Im Überwältigungsverbot ist die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination festgeschrieben. Unter der Überschrift „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“ wird der Umgang mit Optionen und Alternativen erörtert. Der dritte Abschnitt verlangt, „Schüler in die Lage zu versetzen, eine politische Situation und (die) eigene Interessenlage zu analysieren“.


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