Karlsruhe. Sie arbeiten mit den Schicksalen anderer Menschen und müssen oft unbequeme Entscheidungen treffen. Richter, Vollstreckungsbeamte und Mitarbeiter von Sozialdezernaten haben keinen leichten Job. Klaus Michael Böhm, Vorsitzender der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) und Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, spricht mit dem Staatsanzeiger über die Herausforderungen.
Staatsanzeiger: Herr Böhm, als Richter entscheiden Sie und Ihre Kollegen über das Schicksal anderer Menschen. Kann man da über die Jahre eine Routine entwickeln?
Klaus Michael Böhm: Wie in jedem anderem Beruf, entwickelt natürlich auch ein Richter oder ein Staatsanwalt im Laufe der Jahre eine gewisse Routine und lernt damit umzugehen, dass er oftmals harte Entscheidungen treffen muss. Aber gerade als Richter muss man aufpassen und darf nie vergessen, dass man in jedem Fall über das Schicksal eines Menschen entscheidet und nicht nur über einen „bloßen Fall“ urteilt.
Wie geht es einem, wenn man zum Beispiel weiß, dass man den Papa von drei Kindern zu Haft verurteilt? Ist das eine große Zerreißprobe zwischen Herz und Verstand?
Natürlich lässt das einen nicht unbewegt, aber wer eine schwere Straftat begangen hat, muss auch die Folgen seines Verhaltens tragen. Als Richter hat man nach meinem Verständnis nicht nur die Aufgabe, nach Recht und Gesetz zu urteilen, sondern mit der Entscheidung auch Gerechtigkeit herzustellen. Wenn der Staat nicht dafür sorgt, dass – schwere – Straftaten nach der Schuld des Täters und mit der danach gebotenen Härte geahndet werden, dann besteht die Gefahr, dass das Opfer oder seine Verwandten selbst versuchen werden, das Recht in ihre Hand zu nehmen. Das kann und darf ein Rechtsstaat nicht zulassen.
Die Geschichten, die Angeklagte auf der Anklagebank erzählen, sind ja durchaus manchmal Mitleid erregend. Kann es Ihnen da passieren, dass Sie den Hauch des Verständnisses für eine Tat bekommen?
Man darf in solchen Situationen nie vergessen, dass es nicht nur den Täter, sondern zumeist auch ein Opfer gibt, etwa den überfallenen Tankstelleninhaber die vergewaltigte Frau oder das missbrauchte Kind. Diese Menschen haben zumeist großes Leid erlitten und haben die Folgen oftmals ein Leben lang zu tragen. Leider trägt unser Recht diesen Aspekt zu wenig Rechnung.
Wie meinen Sie das?
Unser Recht kümmert sich zwar – wenn auch in vielen Bereichen immer noch erheblich verbesserungsfähig – um das Opfer der Straftat und gesteht diesen im Strafverfahren gegen den Täter viele Rechte zu, etwa den Anspruch auf einen Anwalt als Beistand. Mit dem präventiven Opferschutz liegt es aber im Argen.
Was verstehen Sie unter präventiven Opferschutz?
Aufgabe des Strafrechts ist nicht nur die Ahndung der vom Täter begangenen Straftat, sondern auch die Verhinderung einer Wiederholung. Deshalb darf es im Strafverfahren nicht nur um die Bestrafung des Täters gehen, sondern auch um Prävention. Hierzu muss man wissen, dass viele Gewalt- und Sexualstraftäter unter teilweise auch entwicklungsbedingten Störungen leiden, welche für die Begehung ihrer Straftaten mitursächlich sind. So können sich manche Täter aufgrund von Emphatiemängeln gar nicht in die Gefühle ihrer Opfer hineinversetzen. Wenn man diese Personen nur einsperrt und Ihre Defizite während der Haft nicht therapeutisch behandelt, dann ist eine Wiederholung der Tat eigentlich vorprogrammiert.
Wird im Zuge der Gerichtsverhandlung nicht geklärt, ob ein Täter an einer solchen Störung leidet?
Nach deutschem Recht muss in einer gerichtlichen Hauptverhandlung nur in wenigen Fällen aufklärt werden, ob ein Täter an so etwas leidet und ob diese Störung behandelbar ist. Ohne sachverständige Diagnose bleiben diese Defizite bestehen, was zu Wiederholungstaten führen kann. Auch wenn sich in Baden-Württemberg in den letzen Jahren diesbezüglich schon wirklich vieles positiv verändert hat - bundesweit gesehen bleibt hier vieles oftmals unerkannt und deshalb unbehandelt.
Gibt es Möglichkeiten, die Behandlung von Tätern in Haft gesetzlich zu verankern?
Ja, etwa in der Schweiz. Nach dortigem Recht prüft der Richter im Strafverfahren nicht nur, ob der Täter die Tat begangen hat und wie er hierfür bestraft werden soll, sondern er hat sich durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auch darüber Gewissheit zu verschaffen, welche Möglichkeiten zu Verhinderung einer Wiederholung bestehen. Hat eine therapeutische Behandlung des Täters Aussicht auf Erfolg, so kann er diese schon im Urteil anordnen. Das ist in Deutschland nicht möglich.
Was kann man da tun?
Viele meiner Kollegen befanden sich wie ich in Gewissensnot und wollten es nicht mehr hinnehmen, an sich behandelbare Täter ohne jede indizierte Therapie und deshalb weiterhin erheblich rückfallgefährdet nach dem Gesetz aus der Haft entlassen zu müssen. Vor allem von Richtern und Staatsanwältin wurde deshalb im Jahre 2008 die in Karlsruhe ansässige Behandlungsinitiative Opferschutz, kurz BIOS, gegründet, welche gerade auch den präventiven Opferschutz verbessern will. Zu diesem Zweck hat die Initiative im Jahre 2009 dem Bundesministerium für Justiz das „BIOS-Memorandum“ vorgelegt, mit welchem in Anlehnung an das Schweizer Recht der präventive Opferschutz im Gesetz verankert werden soll.
Hat Ihr Vorstoß Aussicht auf Erfolg?
Ja, denn am 26. Oktober 2011 hat sich der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages im Rahmen einer öffentlichen Anhörung damit beschäftigt. Wir sind fester Überzeugung, dass der Gesetzgeber die Zeichen der Zeit nunmehr erkannt hat und den präventiven Opferschutz im Gesetz verankern wird.
Klaus Michael Böhm ist seit 1986 als Richter im Justizdienst des Landes Baden-Württemberg tätig. Nach einer Abordnung von 1992 bis 1994 als stellvertretender Leiter der Abteilung für die Aufarbeitung des SED-Unrechts an die Staatsanwaltschaft Dresden und von 1995 bis 1998 an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wurde er 1998 zum Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe berufen und gehört dort als stellvertretender Vorsitzender dem 1. Strafsenat an. Böhm ist Mitbegründer der 2006 im Justizministerium Baden-Württemberg ins Leben gerufenen und in Karlsruhe ansässigen Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) und steht dieser nach Vereinsgründung im November 2008 als 1. Vorsitzender vor.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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