Eine Republik geht auf die Straße – eine kleine Protestchronik

11.12.2010 
Redaktion
 

Stuttgart. Die Proteste gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 sind groß. Einzigartig in der Bundesrepublik sind sie aber keineswegs. Eine Auswahl an Streitthemen und Demonstrationen quer durch die Republik:

  • Widerstand gegen die Startbahn West: Für die Befürworter der Startbahn West, einer 4000 Meter langen Piste auf dem Frankfurter Flughafen, war die Sache klar: Der Flugverkehr am europäischen Luftdrehkreuz Frankfurt am Main hatte so drastisch zugenommen, dass die Kapazitäten nicht mehr genügten. Eine neue Startbahn musste her.
    Die ersten Pläne für den Bau der 78 Millionen Mark teuren Startbahn West wurden bereits in den 1960er-Jahren entwickelt. Das Planfeststellungsverfahren beschäftige die Gerichte in Hessen über zehn Jahre. Es gingen mehr als 100 Klagen gegen den geplanten Ausbau des Frankfurter Flughafens ein. Die Gegner der Startbahn West schlossen sich Ende 1978 in einer Bürgerinitiative zusammen. Aus ihrer Sicht war das Großprojekt Ausdruck des ungehemmten „Wachstumswahns“ von Politik und Wirtschaft. Um den Bau zu verhindern, zogen sie bis vor das Bundesverwaltungsgericht. Doch die Klage hatte keinen Erfolg: Am 21. Oktober 1980 gab der Hessische Verwaltungsgerichtshof sein Okay für den Flughafenausbau.
    Die Lage vor Ort spitzte sich zu. Als die ersten Bäume gefällt wurden, demonstrierten am 2. November 1980 15 000 Menschen gegen die Rodung. Die Startbahn-Gegner errichteten ein Hüttendorf auf dem Flughafengelände, das von der Polizei geräumt wurde. Es folgten unzählige Protestaktionen, Kundgebungen und Massendemonstrationen mit weit über 100 000 Teilnehmern. Startbahngegner blockierten die Eingänge zum Flughafen. Als die Polizei mit Gewalt gegen die Demonstration vorging, belagerten die Protestierer kurzerhand die benachbarte Autobahn. Die Protestaktionen legten die Frankfurter Innenstadt über eine Woche lang lahm.
    Am 12. April 1984 wurde die neue Startbahn West eröffnet, doch die Proteste nahmen kein Ende. Drei Jahre später lockten mehrere Startbahn-Gegner die Polizei während einer Demonstration in einen Hinterhalt. Ein Protestierer schoss mit einer geklauten Waffe auf die Beamten. Mehrere Polizisten wurden verletzt, zwei Beamte starben.
  • Anti-Atomkraft-Demonstrationen: In den 1960er-Jahren galt die Atomkraft in Deutschland gemeinhin als sichere und umweltfreundliche Form der Energiegewinnung. Doch als die Bundesregierung nach der Ölkrise 1973 über einen schnellen Ausbau der Atomenergie nachdachte, wurden kritische Stimmen laut.
    Zu ersten großen Protestaktionen kam es ab 1975 auf dem Bauplatz des geplanten Atomkraftwerks in der badischen Gemeinde Wyhl. Atomkraftgegner besetzten das Gelände über Monate hinweg. Ihre Proteste und die Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht hatten Erfolg: Das Kernkraftwerk wurde nicht gebaut. Die Aktion wurde zum Vorbild für Proteste gegen weitere Atommeiler.
    Nicht immer waren die Demonstranten so erfolgreich wie in Wyhl: Trotz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen mehreren tausend Menschen und der Polizei ging das Atomkraftwerk in Brokdorf 1986 ans Netz. Der Bau der Wiederaufbereitungsanlage war nach Großdemonstrationen mit mehr als 100 000 Teilnehmern politisch allerdings nicht mehr durchsetzbar.
    Am 5. September 2009 fand in Berlin mit 50 000 Teilnehmern die größte Anti-Atomkraft-Demonstration seit vielen Jahren statt. Die Demonstranten wollten vor der Bundestagswahl für den Ausstieg aus der Atomkraft werben.
    Aus Protest gegen die Pläne der schwarz-gelben Bundesregierung, den Atomausstieg auf unbestimmte Zeit zu verschieben, bildeten am 24. April 2010 120 000 Demonstranten eine Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel. Zeitgleich umzingelten 20 000 Kernkraftgegner das Atomkraftwerk Biblis. Zur Anti-Atomkraft-Kundgebung am 18. September 2010 reisten viele tausend Menschen in die Bundeshauptstadt. Insgesamt protestierten 100 000 Teilnehmer gegen die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken in Deutschland um durchschnittlich zwölf Jahre. Die Bundesregierung ließ sich von den Massendemonstrationen nicht beeindrucken: Nachdem auch Bundespräsident Christian Wulff (CDU) das umstrittene Gesetz unterzeichnet hat, kann allenfalls eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht die Laufzeitverlängerung kippen.  
  • Proteste gegen Hartz IV: Gegen die von der Schröder-Regierung beschlossenen Arbeitsmarktreformen gingen am 1. November 2003 in Berlin über 100 000 Menschen auf die Straße. Sie protestierten gegen das Hartz-IV-Paket und die „Rotstiftpolitik“ im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich. Auf dem Höhepunkt der Proteste im August 2004 demonstrierten in über 200 Städten mindestens 200 000 Menschen für mehr soziale Gerechtigkeit. Nicht immer verliefen die sogenannten „Montagsdemonstrationen“ friedlich. In Berlin kam es am 20. September 2004 wegen eines angeblich nicht angemeldeten Lautsprecherwagens zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ab Mitte Oktober 2004 brach die Teilnehmerzahl deutlich ein. Die Veranstalter sind mittlerweile heillos zerstritten, in vielen Städten versammeln sich bloß noch eine Handvoll Leute, um gegen Sozialabbau zu protestieren.  

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