„Fast eine Normalkonstellation“

05.08.2011 
Redaktion
 
Werner Stohler im Interview
Fotos: Stadt Stuttgart

Sie sind beide erfahren in alpinen Höhen. Jetzt könnten Werner Stohler und Heiner Geißler einen ungewöhnlichen Gipfel stürmen. Ihre Kompromisslösung „Frieden in Stuttgart“ zur Befriedung des Konflikts um den Tiefbahnhof will dem Talkesseltreiben in der Landeshauptstadt eine neue Richtung geben. Im Interview mit Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer erläutert der renommierte Verkehrsplaner und Chef der SMA nicht bloß die Vorzüge des überraschend präsentierten Vorschlags.  

staatsanzeiger.de: Seit wann kennen Sie Heiner Geißler?

Werner Stohler: Erst seit recht kurzer Zeit.

Das heißt, Sie waren noch nicht miteinander bergsteigen.

Vielleicht im übertragenen Sinne. Es wird gerade so viel über mich geschrieben. Auf jeden Fall waren wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten in denselben Hütten. Nur dass er im Gebirge ganz andere Dinge hingelegt hat als ich. Ich habe mich aus solchen Regionen längst zurückgezogen.

Das heißt im Umkehrschluss, Sie haben schnell zusammengefunden?

Ja. In unseren Gesprächen hat sich entwickelt, dass Geißler nicht aus dem Stuttgarter Prozess herausgehen will, ohne ein starkes Zeichen gesetzt zu haben. Zugleich war klar, dass er die Kontrahenten nicht dazu bewegen konnte, sich zu bewegen. „Leute, so kommen wir nicht weiter“, hat er gesagt. Und dann haben wir gemeinsam die Basis für den Kompromiss entwickelt, der jetzt etwas pathetisch ‚Frieden für Stuttgart‘ heißt. Dieser Kompromiss ist entstanden aus der Funktionalität des Projekts, und das ist ein sehr großer Vorteil.

Er ist auch aus dem Auftrag der Bahn entstanden. In Ihrem gemeinsamen Papier heißt es,  „durch die Arbeiten am Stresstest“ habe die SMA einen tiefen Einblick in das zukünftige Betriebsgeschehen bekommen, so dass die „kombinierte Lösung“ konzipiert werden konnte.  Ist so ein Vorgehen üblich?

Das ist nichts Außerordentliches und beileibe nicht das erste Mal, dass wir an eine solche Situation herangerufen werden. Eher im Gegenteil. Irgendwelche Leute möchten etwas bauen, und irgendwelche anderen Leute möchten etwas anderes. Es ist fast eine Normalkonstellation, aus den Funktionsanforderungen heraus ein Konzept für ein Bauwerk noch einmal neu zu durchdringen und neue Vorschläge zu entwickeln.

Wobei in Stuttgart die seit eineinhalb Jahren sich nicht entscheidend abkühlende Situation hinzukommt.

Das ist ja mit ein Grund, warum wir aktiv geworden sind. Daran, dass man bei einer neuen Betrachtung zu anderen Überlegungen kommt als bisher, ändert das aber nichts.

Welche Vorzüge hat das Kombi-Modell?

Rein eisenbahnbetrieblich liegt ein großer Vorteil in der Trennung von schnellem und regionalem Verkehr, weil sich beide nicht mehr in die Quere kommen. Der Fernverkehr ist a priori verspätungsanfällig. Wir haben im Stresstest simuliert, dass das insgesamt verkraftbar ist. Stabiler laufen die Systeme, wenn sie sich nicht oder weniger begegnen. Die Komplexität geht zurück.

Stabil wäre aber auch der Bahnknoten Stuttgart 21?

Genau das ist das Urteil, wie wir es abgegeben haben. Wir haben die Simulation akribisch begleitet, dokumentiert und die kleinste Unstimmigkeit notiert. Es gab weitere Durchläufe. Und wir haben in dem Prozess gelernt, dass die vielen von uns beanstandeten Punkte keinen wesentlichen Einfluss auf das Gesamtresultat haben. Das System kippt nicht, es kommt nicht grundsätzlich zu neuen Verspätungen, sondern es gibt eher eine Chance, Verspätungen abzubauen.

Für den Experten ist das Thema Verspätungen ganz selbstverständlich. Bahnkunden hingegen müssen sich vorrangig mit Negativbotschaften konfrontiert fühlen.

Sie haben vollständig Recht. Im Stuttgarter Rathaus habe ich versucht zu zeigen, dass sich ein Zug verspätet, wenn von tausend Ereignissen einige bestimmte auf eine bestimmte Art zusammenkommen. Ich selber fahre jeden Tag 40 Minuten mit dem Zug zur Arbeit. Zürich hat ein wunderbares System, aber das heißt noch lange nicht, dass Verspätungen von sieben oder acht Minuten schnell abbaubar sind. Man muss aber erwarten können, dass das System nach einer Erholungszeit wieder sauber ist.

Das System ist sauber, aber der Kunde, der aussteigt, kommt zu spät.

Gerade Nahverkehrskunden haben wirklich spezifische Anforderungen an das Angebot, was die Zeit und den Takt und die Motivation anbelangt.  Zum Beispiel wissen wir, dass es ein psychologisches Komfort-Element ist, in einem endenden Zug anzukommen. Es gibt alte Füchse in Zürich, die steigen nicht sofort aus, weil sie wissen, wann ihr Anschluss kommt. Da sind Dinge fürs Bahnfahren zumindest auch wichtig, die nach ganz anderen, nach psychologischen  Gesetzen funktionieren.

Sind Sie so ein Fuchs? Sie kommen aus einer Eisenbahner-Familie.

Ich bin aber erst im zweiten Teil meines Berufslebens in dieses Feld hineingeraten. Ich habe einige Bauwerke in die Welt gesetzt, darunter eine Brücke, über die eine Bahn fährt. Ich war für die Stützen und die Dämme zuständig, aber ich habe die Faszination des Bahnbetriebs erlebt. Und das hat mich nicht mehr losgelassen.

Sie haben Erfahrungen in vielen europäischen Ländern gesammelt. Was halten Sie von der Entwicklung auf der deutschen Rheinseite, vor allem mit Blick auf das künftige Güterverkehrsaufkommen?

Ich bin 1978 nach einem längeren Auslandsaufenthalt in die Schweiz zurückgekehrt und habe sehr bald viel von der Planung im Rheintal Kontakt mitbekommen. Ständig habe ich gelesen, dass und wann der viergleisige Ausbau demnächst fertig sein wird. Die erste Zahl in meinem Kopf ist 1991.  Dann 1997, und soweiter. Das ist eine unendliche Geschichte …

 … die dazu führt, dass immer mehr Tonnen durch bewohntes Gebiet donnern.

Seit hundert Jahren donnern Tonnen durch die Gegend, zum Beispiel auf den Gotthardtunnel zu oder den Lötschbergtunnel. Aber es gibt vernünftige Schutzmaßnahmen, und die müssen halt rechtzeitig, das heißt früh, ergriffen werden. Da werden Stellvertreterkriege geführt nach dem Motto: Güter auf die Schiene ja, aber nicht durch meine Gemeinde. Die Gesellschaft will es, der einzelne Betroffene nicht. Und dann wollen auch noch alle Seiten recht behalten.

Man muss das richtige vom falschen Jammern unterscheiden, sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident.

Das ist unbedingt richtig.

Was ist für Sie die wichtigste Weiterentwicklung der vergangenen Jahrzehnte bei der Bahn?

Das ist eine schwierige Frage. Ich versuche, sie gesellschaftlich zu beantworten. Die Eisenbahn hat einen unglaublichen Niedergang erlebt, in verschiedenen Weltgegenden  zu verschiedenen Zeiten. Nehmen Sie die USA, die ohne Eisenbahn nicht wären, was sie sind. Da wurde das gesamte Riesennetz Opfer der Autoindustrie und mit Absicht stillgelegt. Wir in Europa äffen den american way of life mit Verzögerungen nach, bis zu den größten Grausligkeiten kulinarischer Art. Auch wir haben einen gewissen Talboden erreicht, und dann ging es mit der Bahn wieder bergauf. Heute ist in Frankreich ein Großteil des gesamten Inlandsflugverkehr durch die Bahn ersetzt. Zwischen Paris und Lyon sind die Züge brechend voll. Es wird es eine zweite TGV-Trasse geben, weil heute in Spitzenzeiten ein Zug alle vier Minuten nicht mehr ausreicht. Spanien holt die Entwicklung mit Riesenschritten nach. In kleineren Ländern, wie Belgien oder Holland, schafft es die Bahn, einen Großteil des Verkehrswachstums auf der Straße aufzufangen.

Und in der Schweiz?

Wir sind da ja gewissermaßen Spitzenreiter. Und deshalb kämpfen wir mit einem neuen Problem. Die Bahn kommt nicht mehr nach mit ihren Angeboten, weil so viele Leute transportiert werden wollen. Das ist sehr erfreulich. Aber dieser Ausbau muss finanziert werden.

Die Gretchenfrage zum Schluss: Welche Chancen hat die Stuttgarter Kombilösung?

Es wäre ein großer Erfolg, wenn ein Dialog zu Stande käme. Und wenn die Leute denken, bevor sie reden und Positionen beziehen. Die Kombilösung übernimmt Teile von Stuttgart 21 und lässt andere Teile weg. Das ist ein Reiz, weil vieles schon bewilligt ist. Geißler ist jemand mit viel Gewicht und langem Atem. Es ist unser beider Wunsch, die Tür zu einem Dialog aufzustoßen, der noch einmal alle Aspekte behandelt.

 

 


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