„Es wird eine Zeit brauchen, bis man sich daran gewöhnt hat“

14.04.2016 
Von: Ulrike Raab-Nicolai
 
Redaktion
 
Streitgespräch: Vergaberechtsreform
Foto: dpa

Die Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in deutsches Recht wird am 18. April rechtskräftig. Dies ist Anlass für eine kritische Einordnung zweier Experten: Andrea Rosenauer, Leiterin des Referats Justitiariat, Kartell- und Vergaberecht im Ministerium für Finanzen und Wirtschaft Baden-Württemberg und Alexander Hübner, Rechtsanwalt und Partner bei Haver & Mailänder Rechtsanwälte, Stuttgart.

Staatsanzeiger: Eines der Ziele der Vergaberechtsreform ist die Vereinfachung. Wird es angesichts etwa von komplett neuen Formularen und Paragrafen sowie der gestiegenen Komplexität verfehlt?

Andrea Rosenauer: In der Tat könnte sich dieser Eindruck aufdrängen, weil das Gesetzesmaterial sehr umfangreich ist. Auf der anderen Seite hatten wir drei sehr umfangreiche und detaillierte EU-Richtlinien. Das Ergebnis ist ein guter Kompromiss zwischen allen Interessen und dem, was wir umsetzen mussten. Wir haben auch die berühmte Kaskade teilweise aufgehoben, das heißt, es gibt außer für den Baubereich nur noch eine Zweistufigkeit. Der Anwender muss nicht mehr so viel suchen, welche Vorschrift einschlägig ist. Aber es wird eine Zeit brauchen, bis man sich daran gewöhnt hat.

Alexander Hübner: Also, ein bisschen brauchen, bis man sich dran gewöhnt, davon würde ich bei 900 Seiten deutschem und EU-Gesetzestext nicht sprechen (lacht). Ich erlebe es bei der Schulung von Beteiligten am Vergabeverfahren in den letzten Monaten, dass man sich doch mit dieser Menge an Normen sehr schwertut. Sie sind teilweise völlig neu gestaltet oder in eine neue Systematik gebracht worden. Der Effekt ist erschlagend. Gerade für Bieter, die nicht täglich mit öffentlichen Aufträgen zu tun haben, weil sie auch in privaten Märkten unterwegs sind.

Wird die Bieterseite vernachlässigt?

Hübner: Ich habe mir mal angeschaut, was sich die Kommission 2014, als die EU-Richtlinien verabschiedet wurden, gedacht hat, wem die Vereinfachung, Flexibilisierung und Modernisierung zugute kommt. Sie stellt auf ihrer Homepage zehn Punkte dar, die neu, gut und fortschrittlich sein sollen. Für Bieter ist da genau ein Punkt von Interesse. Alles andere ist aus Sicht der Auftraggeberseite.

Sind die Vergabestellen vorbereitet?

Rosenauer: Wir warten noch auf die Vergabeverordnung, die ja der Hauptanwendungsbereich sein wird. Wir müssen noch die neuen Formulare erstellen, das wird ein paar Wochen dauern, bis alles wieder rund laufen wird. Auf der anderen Seite dürfte das aber keine so großen Auswirkungen haben, weil das neue Vergaberecht ja nur für die Oberschwelle gilt. Die deutliche Mehrheit der Aufträge, etwa 87 Prozent, sind in der Unterschwelle. Und da wird sich vorerst nichts ändern.

Für das Massengeschäft im Unterschwellenbereich gelten weiter andere Regeln. Wie beurteilen Sie diese Diskrepanz?

Rosenauer: Es war einfach nicht anders zu machen. Wir haben das in unseren Bund-Länder-Arbeitsgruppen immer wieder angesprochen. Der Bund hätte es einfach nicht geschafft, gleichzeitig auch das Unterschwellenrecht zu reformieren. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr einen entsprechenden Vorschlag haben.

Hübner: Die Bieter schauen traditionell mit großer Sorge darauf. Wir zählen auf den Tag, an dem der EuGH feststellt, dass das europäische Primärrecht auch in Bieterrechtsschutz umgesetzt werden muss. Das hat sich die EU-Kommission auf die Agenda gesetzt. Ein weiteres Ziel ist es, die Beteiligung von kleinen und mittleren Unternehmen zu erleichtern.

Wird es gelingen?

Rosenauer: Aus unserer Sicht war Deutschland durch die losweise Vergabe schon immer der Vorreiter. Wir haben in Baden-Württemberg schon länger in unserer Verwaltungsvorschrift Beschaffung 18 Möglichkeiten für die mittelstandsfreundliche Vergabe aufgezeigt. Wir hoffen, dass das in der Praxis umgesetzt wird. Und ich glaube auch, dass das viele tun. Das neue EU-Vergaberecht bringt da nicht viel Neues.

Also keine Erleichterung?

Rosenauer: Erleichtert wird der Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Künftig wird es dafür eine Höchstgrenze geben. Die EU erhofft sich auch von der Wahlmöglichkeit zwischen offenem und nicht-offenem Verfahren, die gleichgestellt werden, dass sich kleine und mittlere Unternehmen mehr beteiligen werden. Weil sie nicht diesen ganzen Aufwand haben, sofort ein komplettes Angebot zu erstellen.

Hübner: Das halte ich auch eher für ein zweischneidiges Schwert. Denn wir haben neuerdings Regelungen, die für den Regelfall den Nachweis der finanziellen Leistungsfähigkeit auf das Doppelte des geschätzten Auftragswerts beschränken. Aber auch da gibt es den berühmten Satz zwei. Ausnahmen sind natürlich zulässig, wenn ein Auftraggeber es im konkreten Ausschreibungsfall für angemessen hält, mehr zu fordern. Auf alle Fälle sind die Regelungen wortreicher geworden und besser verständlich geworden, von daher muss man eine Lanze brechen für das neue Vergaberecht. Aber man hätte auch denjenigen, die nicht so gerne lesen, entgegenkommen müssen.

Verwirklicht nicht die Einheitliche Europäische Eigenerklärung eine Erleichterung?

Hübner: Das ist die Monstranz, die die Kommission als große Bietererleichterung vor sich hergetragen hat. Sie soll Bietern in den verkürzten Angebotsfristen die Möglichkeit geben, sich auf die Angebotskalkulation zu konzentrieren. Wir reden über im Regelfall zehn Tage weniger, in Zeiten, in denen es schon bisher nicht leicht war, ein Angebot in 45 Tagen zu erstellen. Man sagt, die Nachweise für Eure Bietereignung, die müsst Ihr im ersten Schritt nur formularmäßig behaupten, also nur ankreuzen. Erst mal muss man sich aber an dieses 13-seitige fürchterliche Formular mit vier Seiten Anleitung, wie man das auszufüllen hat, gewöhnen. Es ist gut gemeint und wird nach einer Gewöhnungsphase zu einer Standardisierung führen.

Stichwort elektronische Kommunikation: Bieter können ohne Registrierung Unterlagen herunterladen und auch die Signaturpflicht entfällt. Führen solche neuen Regelungen nicht eventuell zu unverhältnismäßigem Mehraufwand? Wo liegen die Probleme?

Rosenauer: Dieser Punkt wurde auf allen Ebenen lange diskutiert. Ursprünglich war in Deutschland angedacht, zumindest eine kostenfreie Registrierungspflicht einzuführen und dann erst den kostenfreien Zugang zu allen Unterlagen zu eröffnen. Die EU hat allerdings eindeutig klar gemacht, dass sie einen barrierefreien Zugang will, ohne Registrierung. Das heißt, wir hatten keine andere Möglichkeit. Wir werden das nun so lösen, dass eine freiwillige Registrierung angeboten wird. Zudem wird der Bieter darauf hingewiesen, täglich zu prüfen, ob sich etwas verändert hat. Wir waren auch verwundert darüber, dass die elektronische Signatur wegfällt. Aber auch das ist ein klassischer Wunsch der EU. Wir haben jetzt die Situation, dass bei E-Mails nicht mehr unterschreiben werden muss. Wenn Sie Ihr Angebot aber schriftlich einreichen, brauchen Sie eine handschriftliche Unterschrift. Wir werden lernen, damit umzugehen.

Hübner: Elektronische Beschaffung ist ein vielfältiges Thema, auch aus Bietersicht. Zunächst einmal glaube ich, dass viele kleinere Auftraggeber, ich spreche jetzt vor allem über kleinere Kommunen, sich mit der Umstellung auf elektronische Vergabe schwertun werden. Dem kommt aber das neue Vergaberecht mit großzügigen Übergangsfristen entgegen. Die normalen Auftraggeber haben ohnehin bis Oktober 2018 Zeit, das scharfzustellen, was doch sehr anforderungsreich formuliert wird. Fortschrittliche Auftraggeber, die das jetzt schon können, sind im Vorteil.

Rosenauer: Man muss allerdings sagen, dass es die elektronische Vergabe in Baden-Württemberg schon sehr lange gibt. Zumindest im Baubereich, im Straßenbaubereich, beim Wasserbau und auch bei unserem Logistikzentrum läuft die Vergabeelektronisch ab.

Hübner: Die neuen Anforderungen an die elektronische Kommunikation sind doch vergleichbar streng, im Unterschied zu dem was wir bisher haben. Da wird sehr viel Rückenwind nötig sein, um das umzusetzen. Da bin ich gespannt und zwar sowohl auf die Vergabestellen – als auch auf die Bieterseite.

Rosenauer: Ich erlebe immer wieder, dass manche glauben, eine E-Mail reiche aus. So ganz einfach ist das aber nicht.

Hübner: Einfache E-Mails reichen ab dem 18. April 2016 nicht mehr, es sei denn, zentrale Beschaffungsstellen machen von der Übergangsregelung bis 18. April 2017 beziehungsweise alle anderen Vergabestellen bis 18. Oktober 2018 für Gebrauch. Spätestens dann aber müssen elektronische Mittel in den zentralen Phasen, zum Beispiel bei Angebotsabgabe die Unversehrtheit, Vertraulichkeit und Echtheit der Daten gewährleisten und außerdem die Anforderungen in Paragraf 10 Absatz 1 S. 2 VgV erfüllen. Diese Anforderungen kommen denen einer elektronischen Signatur nahe, erreichen deren Sicherheitsniveau aber nicht. Der Verordnungsgeber empfiehlt in der amtlichen Begründung die Verwendung von DE-Mail. Ich habe das recherchiert, bei allen zertifizierten Anbietern von DE-Mail aber in den AGB gelesen, dass Nutzer ihren Sitz inDeutschland haben müssen. Das dürfte ein Problem für Bieter jenseits der Grenzen darstellen. Eine Bewertung des Problems halte ich im Moment für schwierig, bin aber skeptisch.

Das Gespräch führte Ulrike Raab-Nicolai


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