Chancen der Bürgerbeteiligung

07.03.2014 
Redaktion
 
Expertenbeitrag
Gisela Erler. Foto: Staatsministerium

Stuttgart. Die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Kabinett von Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg, Gisela Erler (Grüne), zeigt im Folgenden neue Entwicklungen der Bürgerbeteiligung auf. Ausgehend von Stuttgart gibt es in Wirtschaft, Verwaltung und Politik ein neues Verständnis für die frühe Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürgern bei großen Bauvorhaben.

Der Beitrag setzt sich mit der wachsenden Kritik am Konzept Bürgerbeteiligung auseinander. Dr. h.c. Eckart Hien, ehemaliger Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, formulierte zuletzt die These, mehr Bürgerbeteiligung führe zu weniger Demokratie (F.A.Z. vom 24. Januar 2014).

AUSGANGSPUNKT STUTTGART

Seit über vierzig Jahren erleben wir immer wieder aufkommende Wellen der Beteiligung - von den Impulsen der 1968er Bewegung über Friedens- und AKW-Proteste in den 1970er Jahren bis zur sozialen Stadtteilarbeit. Später wurden die Diskussionen durch Lokale Agenda-Prozesse und das Bürgerengagement geprägt. Nach den Diskussionen um den Stuttgarter Tiefbahnhof war das Thema Bürgerbeteiligung noch nie so nahe an der Politik wie jetzt. Parteiübergreifend setzt sich die Idee durch, Bürgerinnen und Bürger früher und intensiver bei Großvorhaben zu beteiligen. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass ein gesetzesmäßig durchgeführtes Verwaltungsverfahren mit mehr als 13.000 Einwendungen und langen Erörterungsterminen die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger nicht kanalisieren kann. Es bedarf anderer oder zumindest ergänzender Methoden. Richtig eingesetzte Bürgerbeteiligung kann Behördenentscheidungen besser und schneller machen. Somit ist sie auch ein wichtiger Standortfaktor. Die Wirtschaft, gerade die Bauwirtschaft, in Baden-Württemberg hat das erkannt. Ausgehend von dem Engagement Stuttgarter Ingenieure hat der VDI die weitreichende Managementrichtlinie VDI 7000/7001 für die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben erarbeitet. Der neue Planungsleitfaden der Landesregierung für die Landesbehörden wurde parallel entwickelt. Die Schnittstellen wurden abgestimmt. Beide Werke ergänzen sich ideal. So erfasst der Planungsleitfaden die eigenen Großprojekte des Landes und gibt zugleich den Behörden vor, Unternehmen zur Bürgerbeteiligung bei ihren geplanten Großprojekten aufzufordern.

Stuttgart steht also nicht mehr nur für das strittige „S 21“-Projekt, sondern auch für das langsame Entstehen eines neuen Miteinanders von Wirtschaft, Behörden sowie Bürgerinnen und Bürgern, somit für eine neue Baukultur. Sinn und Zweck von Bauvorhaben werden dabei im Vorhinein noch einmal öffentlich zur Diskussion gestellt, wobei die Letztentscheidung bei den Behörden und Bauträgern verbleibt. Ein „Aus“ für ein Projekt wird dabei keineswegs die Regel sein, ist aber auch nicht völlig ausgeschlossen, wenn die Konfliktpotentiale und Gegenargumente sich für den Bauträger als unüberwindlich darstellen. Projekte müssen gut und umfassend erläutert und begründet werden - und es muss eine Grundoffenheit für Änderungswünsche und Vorschläge bestehen.

GÄNGIGE VORBEHALTE GEGEN BÜRGERBETEILIGUNG

Nach dem Konflikt um Stuttgart 21 setzte sich die Überzeugung durch, dass solche Konflikte vor allem durch sehr frühe Beteiligung von Bürgern verhindert werden könnten. Die Diskussionen um Stuttgart 21 führten zu einer Intensivierung von Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen, insbesondere auch im kommunalen Bereich.

Inzwischen ist aber angesichts mancher schwieriger Erfahrung die Euphorie für die Bürgerbeteiligung oft einer skeptischeren Beurteilung oder gar Ablehnung gewichen. Die eher wenigen negativen Erfahrungen überlagern die vielen Erfolge in diesem Bereich. Die wichtigsten Kritikargumente gegenüber der Bürgerbeteiligung lauten:

  1. Bürgerbeteiligung verlangsamt oder blockiert die Umsetzung von notwendigen Projekten, etwa im Bereich der Energiewende. Dem halte ich entgegen: Das Umsetzungsdefizit von Projekten erklärt sich häufig gerade aus zu geringer und zu später Beteiligung, aber auch aus methodischen Fehlern. 

  2. Bürgerbeteiligung ist letztlich wenig demokratisch - sie wird vor allem von Akademikern und älteren Menschen getragen und grenzt die Interessen von sozial benachteiligten und politisch weniger aktiven Menschen aus. Sie untergräbt auch die Legitimität gewählter Funktionsträger und der von ihnen getroffenen Entscheidungen. Sie befördert Einzelinteressen gegenüber dem politisch definierten Allgemeinwohl. Das ist ebenfalls unzutreffend. Es geht vielmehr darum, mit geeigneten Methoden alle Schichten der Gesellschaft für die Bürgerbeteiligung zu aktivieren.
      
  3. Bürgerbeteiligung trägt nicht unbedingt zur Zufriedenheit und Akzeptanz bei. Im Gegenteil: sie provoziert Enttäuschungen, wenn sie falsche Entscheidungsspielräume vorspiegelt. Diesem Argument, das von der immer zu beachtenden menschlichen Fehlbarkeit ausgeht, halte ich entgegen, dass die Menschen sehr wohl in der Lage und willens sind, auch komplizierteste Sachverhalte zu durchdringen. Die Spielräume müssen aber klar kommuniziert werden.

Unsere Politik setzt sich mit diesen Fragen auseinander und bietet konstruktive Antworten. Sie ist aber - heute noch mehr als vor drei Jahren - von der Erkenntnis bestimmt, dass ohne intensive und konsistente Beteiligung zukunftsfähige Politik nicht möglich ist. Allerdings müssen tatsächlich die Spielregeln genauer definiert, die Fallstricke erkannt und systematische Lernprozesse ermöglicht werden.

BÜRGERBETEILIGUNG IST NICHT IDENTISCH MIT DIREKTER DEMOKRATIE

Wie mit Erwartungen umgegangen wird, ist für die Bürgerbeteiligung in der Tat zentral. Ich möchte deshalb besonders auf ein weit verbreitetes Missverständnis hinweisen, nämlich auf die Gleichsetzung der Bürgerbeteiligung mit der direkten Demokratie. Dr. Heiner Geißler hatte nach der S 21-Schlichtung die „direkte Bürgerbeteiligung“ gefordert, in der alle Bürgerinnen und Bürger abstimmen können. Viele Menschen denken nun, wenn sie von Bürgerbeteiligung hören, sogleich an eine Mitentscheidung, also eine Art Abstimmung. Gerade das Fachplanungsrecht, das bei Infrastrukturvorhaben gilt, lässt dafür rechtlich derzeit keine Spielräume. Insofern danke ich Herrn Dr. h.c. Hien für seine klaren Aussagen. Deshalb kommt es im Fachplanungsrecht vor allem auf Argumente, gute Information und die aktive Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger an.

 

Ich begrüße, dass sich inzwischen alle Parteien im Landtag von Baden-Württemberg auf mehr direkte Demokratie (zum Beispiel die Möglichkeit von Bürgerentscheiden gegen die Aufstellung von Bebauungsplänen, Volksinitiative, niedrigere Quoren) verständigt haben. Lokale Bürgerentscheide gegen lokale Bebauungspläne bieten also die Möglichkeit, tatsächlich abzustimmen. Für Planfeststellungsverfahren beispielsweise im Verkehrswegebau, Energiewesen, Bergbau, Hochwasserschutz oder beim Bau von Fabriken besteht jedoch diese Möglichkeit nicht. Denn das bundesrechtlich geprägte Planungsrecht sieht dann – vereinfacht gesagt - vor, dass die Behörden die Planungen nur noch auf gröbste Fehler hin untersuchen. Die Genehmigungsbehörden planen also nicht selbst. Hergeleitet wird das aus dem im Grundgesetz verankerten Eigentumsrecht, das höher gewichtet wird als demokratische Teilhabe. Das ist vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht als Problem bewusst. Ihre Einbindung ist daher umso wichtiger.

WUTBÜRGERDEMOKRATIE?

Es ist richtig, dass wir zunehmende Fanatisierungen erleben. Oft sind es gebildete, ältere Herren, die sich in der Bürgerbeteiligung einbringen. Ich begrüße es aber nachdrücklich, dass sich Menschen landauf und landab so sehr für das Gemeinwohl einsetzen und nicht still sind, wenn große Projekte die Heimat, das Landschaftsbild, die Natur, die Gesundheit – je nach Sichtweise – tangieren würden. Ja, es sind oft auch eigene Interessen im Spiel. Aber das schränkt die Legitimation von Protest und Initiative nicht ein. Genauso wichtig ist allerdings auch, dass wir uns noch viel mehr um die stillen Gruppen, um schweigende Mehrheiten, um Frauen, Behinderte und sozial Schwache kümmern müssen, soll die Bürgerbeteiligung langfristig gesellschaftliche Akzeptanz erhalten.

Es gibt heute eine Vielzahl von geeigneten Methoden, um die Meinungen von Bürgerinnen und Bürgern oder benachteiligten Gruppen mit abzubilden. Erwähnt sei das Mittel der Zufallsauswahl von Bürgerinnen und Bürgern, der Befragung, Fokusgruppen oder der Einbeziehung von politisch neutralen Nachbarschaftszentren wie zum Beispiel Mehrgenerationenhäusern in die Planung. Bürgerbeteiligung führt nicht zu einem Entscheidungs- und Vollzugsdefizit. Vielmehr ist die mangelnde Bürgerbeteiligung häufig die Ursache für Verzögerungen. Wo Bürgerinnen und Bürger intensiv gehört werden, vermindert sich oft die Zahl der Einwendungen und Proteste drastisch. Das entlastet die Behörden und beschleunigt die Verfahren. Die diversen „Investitionsbeschleunigungsgesetze“ haben insofern ihr Ziel verfehlt. Aus der Sorge, mit Einwänden zu spät zu kommen, werden unnötig viele formale Einwendungen erhoben. Bei grundsätzlich strittigen Themen wird auch ein Kompromiss häufig eine Gruppe von Menschen zurückgelassen die sich nicht mitgenommen fühlt. Völliger Konsens kann kein Ziel der Beteiligung sein. Dafür aber ist das Thema dann aber deutlich breiter verankert und im Detail besser geplant.

DIFFERENZIERUNG NACH EBENEN

Grob gesagt kann man feststellen, dass die Bürgerbeteiligung einfacher ist, je lokaler es wird. Dabei empfiehlt es sich, die jeweiligen Volksvertretungen einzuladen. Denn die parlamentarischen Entscheidungsrechte bleiben unberührt. Lokale, regionale, mit Abstand auch noch landesspezifische Vorhaben (Beispiel Straßen, Nationalpark Nordschwarzwald) sind einer Bürgerbeteiligung gut zugänglich. Bei nationalen oder EU-weiten Vorhaben (wie Stromtrassen) wird die Bürgerbeteiligung immer schwieriger. Je abstrakter die Ebene, umso größer ist die Rolle der Parlamente, aber auch der Parteien. Die Parteien haben die Aufgabe, unterschiedliche Interessen zu bündeln und zu vertreten. Auch wenn die Kritik an Parteien noch immer in Mode ist, sollte auf diese grundlegende Funktion der Parteien für die Meinungsbildung und die Meinungsvertretung hingewiesen werden. Welche Formen von Bürgerbeteiligung sich hier eignen, ohne zu sehr von der lokalen Situation abgekoppelt zu sein, ist noch nicht zu erkennen. Daran wird in den nächsten Jahren, nicht zuletzt von der EU, weiter gearbeitet.

DIALOG UND GESPRÄCH IN ALLEN PHASEN DES VERFAHRENS

Speziell bei der Bürgerbeteiligung im Fachplanungswesen (z.B. Verkehrswege, Fabriken, Wasserbau, Energie) geht es nicht um die reine Kenntnisnahme des Vorhabens durch die Bürger – so Dr. h.c. Hien -, sondern um eine inhaltliche Auseinandersetzung der Vorhabenträger und der Behörden mit Bürgerideen. Bei staatlichen Infrastrukturvorhaben gilt das umso mehr. Der Diskurs muss ganz früh beginnen, über alle Phasen des Verfahrens situationsangepasst aufrechterhalten werden und darf bei der Entscheidung nicht enden. Es muss selbst in der Realisierungsphase noch eine Auseinandersetzung mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern geben. Ein Erfolgsfaktor für die Bürgerbeteiligung ist es daher, in jeder Projektphase auf die spezifischen Umstände einzugehen – und dann aber auch in jeder Phase entsprechend zu entscheiden. Die zeitnahe Entscheidung ist elementar. Das führt zu sogenannten Abschichtungen und hält die Verfahren schlank. Deshalb ist deutlich zu kommunizieren, ob es noch um das „Ob“ eines Vorhabens geht oder nur noch das „Wie“ diskutiert werden kann. Die Nulloption, also der Verzicht auf das Vorhaben oder Bau ganz woanders, kann in aller Regel nur ganz am Anfang diskutiert werden. Wer in einer späten Projektphase das „Ob“ aufruft, verhindert letztlich die Bürgerbeteiligung. Das muss beachtet werden, damit der Diskurs über die jeweils zur Debatte stehende beste Lösung nicht durch Diskussionen aus der Vergangenheit überlagert wird.

So können in einer ganz frühen Phase, vor der Raumordnung, Simulationen ein gutes Mittel sein, um die Bürgerinnen und Bürger zu aktivieren. Die Technik ist inzwischen so weit, dass anhand von Plänen eine exakte grafische Simulation machbar ist. Die Simulation muss aber nicht bei der optischen Erfassung stehen bleiben. Auch Lärmsimulationen können hilfreich sein. Das Problem: gerade in dieser frühen Phase interessieren sich die Menschen oft noch nicht für ein scheinbar unkonkretes Projekt. Doch werden schon früh wichtige Entscheidungen gefällt (Trassenführungen, Standortauswahl), die später nicht mehr reversibel sind. Deshalb ist die frühe Aktivierung wichtig. Es mag auf den ersten Blick verlockend sein, „keine schlafenden Hunde“ zu wecken. Die Industrie ist mittlerweile aber viel weiter, was die neue Richtlinie des VDI und die tägliche Praxis zeigt. Dort wird die Unsicherheit über mögliche Proteste als monetärer Unsicherheitsfaktor bewertet. Eine ganz frühe Auseinandersetzung zum Beispiel mit denjenigen, die später eine Bürgerinitiative gründen könnten, ist deshalb bei Großvorhaben inzwischen „state of the art“. Ferner gilt es, lokale Mandatsträger und die örtliche Zivilgesellschaft (Sportvereine, Landfrauen, Kammern etc.) anzusprechen. Auch wenn die Einrichtung eines Nationalparks nicht mit der Infrastrukturplanung vergleichbar ist, möchte ich doch gewisse Parallelen ziehen. Vielleicht wären die Diskussionen im Nordschwarzwald anders gelaufen, wenn man die Landfrauen und Kirchen vor Ort noch stärker einbezogen hätte. Gleichwohl möchte ich betonen, dass es noch nie einen so systematischen, umfassenden, früh begonnenen und die Grenzen der Beteiligung klar kommunizierenden Beteiligungsprozess wie den zum Nationalpark Schwarzwald in Baden-Württemberg gegeben hat. Und hier stehen wir erst ganz am Anfang eines langfristigen Beteiligungskonzepts. In Zukunft bieten sich dort große Mitgestaltungschancen für die Bürgerinnen und Bürger der Region.

GESPRÄCHSFADEN HALTEN

Der renommierte Rechtswissenschaftler Professor Ziekow vom Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer prägte den Begriff der Dialogbrücken. Für die kaskadenförmig aufgebauten Infrastrukturplanungen sollte der Dialog zwischen Vorhabenträger, Behörde und Bürgerinnen und Bürger über die einzelnen Planungsstufen hinweg erhalten bleiben. Bleibt der Diskurs ganz am Anfang stehen, kommt rasch der Vorwurf der Alibiveranstaltung. Deshalb sollte in allen Phasen und Abschnitten (Raumordnung, Umweltscoping, Planfeststellung, Entscheidung, Realisierung) der Gesprächsfaden gehalten werden. Dabei muss es nicht immer die Frontalveranstaltung in großen Sälen sein. Bilaterale Kontakte sind durchaus sinnvoll, manchmal wegen eines ruhigeren Umfelds sogar geboten. Auch während der Bauphase ist die Beteiligung zu pflegen. Hier können ganz andere Bürgerinnen und Bürger interessiert sein als während der Planung. Folglich sind andere Formate sinnvoll. So mag dann eine aufsuchende Bürgerbeteiligung an der Haustür geboten sein, um zum Beispiel Angrenzer von Baustellenrouten zu unterrichten. Ein unsensibler Umgang mit Bürgerinnen und Bürger durch den Vorhabenträger während der Bauphase führt oft zu Widerständen. Ursache ist für Verzögerungen dann nicht die Rechtslage oder die Verwaltungspraxis. Die von Dr. h.c. Hien angesprochenen Durchsetzungsprobleme sind daher oft ein Spiegelbild des Verhaltens eines Vorhabenträgers.

BÜRGERARGUMENTEN NICHT IMMER FOLGEN, ABER UNBEDINGT WÜRDIGEN

Zukünftig müssen in Baden-Württemberg die wichtigen Ergebnisse einer Bürgerbeteiligung in der Entscheidung diskutiert und bewertet werden. EU-Vorgaben fordern das bereits. Das ist im deutschen Recht aber kaum umgesetzt. Für die Verwaltungspraxis bedeutet das einen Paradigmenwechsel. Heute sind Entscheidungen häufig schon im Hinblick auf ein Gerichtsverfahren formuliert. Die „gerichtsfeste“ Argumentation pflegt das Motto: „was nicht geschrieben ist, kann nicht gestrichen werden“. Bürgerinnen und Bürger sind folglich enttäuscht, wenn sie sich engagiert eingebracht haben, von Ihren Ideen aber kein Wort in der Behördenentscheidung auftaucht. Oft wird es um eher weiche Kriterien wie Landschaftsbild, Heimat oder Gesundheit gehen, die von gesetzlichen Normen und technischen Grenzwerten nicht erfasst sind „Menschenschutz statt Naturschutz“ ist eine verbreitete Forderung. Die Behörde muss in der Entscheidung dann deutlich machen, dass nicht sie, sondern der Gesetzgeber die relevanten Schutzgüter festlegt Damit wird deutlich gemacht, dass nicht die Behörde, sondern das Parlament der richtige Adressat für Proteste ist. Und in die Parlamente gehören dann die grundlegenden Diskussionen, ob bestimmte Grenzwerte oder Vorgaben sinnvoll sind oder nicht. Wenn den Menschen gut erklärt wird, warum ihre Idee nicht umsetzbar ist, hat das in der Regel eine befriedende Wirkung. Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht unbedingt, dass ihren Argumenten Folge geleistet wird. Aber sie erwarten ganz sicher eine fundierte und ernsthafte Auseinandersetzung damit.

WIE KANN MAN VORGEHEN?

Die Landesregierung von Baden-Württemberg führt ein so genanntes Beteiligungsscoping ein, bei dem die Bürgerinnen und Bürger über die geeigneten Formen der Bürgerbeteiligung, aber auch über die gebotenen Entscheidungsschritte (die Abschichtungen) mitsprechen. Ideales Ziel ist ein abgestimmter Fahrplan für die Bürgerbeteiligung. Daneben sollten sich alle Beteiligten auf Gutachter bzw. Fragen einigen, für die es Gutachten braucht. Denn, das hat Ministerpräsident Kretschmann erst kürzlich wieder betont, wir wollen keine endlosen Debatten. Es muss tatsächlich entschieden werden. Die Landesregierung von Baden-Württemberg zeichnet dabei einen flexiblen Weg vor, um die Menschen in einen Diskurs einzubinden. Vor Ort werden die besten Entscheidungen gefällt. Deshalb verzichten wir auf Detailvorgaben zu einzelnen Methoden. Das gilt für Landesprojekte wie auch für private Vorhaben.

BÜRGERBETEILIGUNG UND DIREKTE DEMOKRATIE UNVERSÖHNLICHE ANTIPODEN? UND WIE VERHÄLT ES SICH MIT DER REPRÄSENTATIVEN DEMOKRATIE?

Bleibt die Frage offen, ob es in Deutschland immer beim Nebeneinander  von deliberativen Konzepten (Mitwirkung ohne Mitentscheidung) und direkter Demokratie (Abstimmungen) bleiben muss. Ich denke, dass Mischformen möglich und sinnvoll sind. Ein Ansatz wäre es, verstärkt die Bürgerinnen und Bürger zu befragen, die Ergebnisse aber nur als ein Abwägungsbelang in die Ermessensentscheidung der Behörden einzustellen. Das bedarf noch intensiver Diskussion und Prüfung. Der Wunsch von Menschen, abzustimmen, zeigt sich immer deutlicher - auch in sogenannten Online-Petitionen zu vielen Themen. Existenzfragen, wie die europäische Erweiterung oder Militäreinsätze, werden wahrscheinlich immer mehr zum Ziel der Forderung nach Volksabstimmungen, auf nationaler und europäischer Ebene. Es ist davon auszugehen, dass die Demokratie des 21. Jahrhunderts ihre zentrale parlamentarische Ebene noch um viele Elemente erweitern wird. Hier gilt es, Spielregeln zu schaffen, Entscheidungsstrukturen verbindlich zu klären und notwendige Veränderungen sorgfältig zu gestalten. Die Bürgerbeteiligung im 21. Jahrhundert ist facettenreich und anspruchsvoll. Das politische System muss die neuen Rahmenbedingungen sorgfältig und respektvoll gestalten. Der Volkswille sucht gewissermaßen neue Flussbette, die gut mit dem Hauptstrom verbunden und manchmal auch kanalisiert sein wollen, aller Renaturierung zum Trotz.


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