"Vielfalt der Anforderungen führt zu Mehrfachbelastungen"

29.10.2018 
Redaktion
 
Interview: Lehrergesundheit

Lehrer im Land sind Tag für Tag vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Das hat auch das Kultusministerium erkannt und einiges für die Gesundheitsförderung getan. So unterstützt es jährlich mit rund 270 000 Euro ein Coachingmodell der Uniklinik Freiburg. Es hilft Lehrern Belastungen präventiv zu bewältigen. Für Alexander Wünsch ein guter Anfang. Doch der Psychologe sieht weitere Entwicklungspotenziale.

Staatsanzeiger: Herr Wünsch, Lehrer sind Planer, Erzieher, Lehrender, Integrationsbeauftragter und vieles mehr. Wie sind sie auf diese Rollenvielfalt vorbereitet?

Alexander Wünsch: Aus dem einst klassischen Lehrerberuf hat sich ein Kultur-, Gesellschafts- und Sozialberuf mit bürokratischen Tätigkeiten entwickelt. Diese Rollenvielfalt bringt weitaus mehr Anforderungen mit sich, als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Darauf müssen Lehrer vorbereitet werden. Für Gymnasiallehrer hat Baden-Württemberg im Gegensatz zu anderen Bundesländer erst recht spät psychologische oder fachdidaktische Kurse  eingeführt, so dass sich hier noch Entwicklungspotenziale ergeben, die es dringend zu nutzen gilt.

Was bedeutet das für die Lehrergesundheit?

Die Vielfalt der Anforderungen führt zu Mehrfachbelastungen. Umso wichtiger ist es nicht nur präventiv, sondern vor allem auch kontinuierlich die Gesundheit von Lehrern zu erhalten und zu fördern. Ihre Gesundheit wirkt sich maßgeblich auf die Unterrichtsqualität und damit auf den Lernerfolg der Schüler aus. Studien zufolge weisen rund 30 Prozent der Lehrer gesundheitliche Probleme auf. Zirka 50 Prozent aller Lehrkräfte in Baden-Württemberg gingen zwischen 2011 und 2013 in Frührente, mehr als die Hälfte der Betroffenen wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen, wie das Kultusministerium 2014 in einer Stellungnahme gegenüber dem Landtag angegeben hat.

Was wird vor diesem Hintergrund landesweit für die Gesundheitsprävention getan?

Das Kultusministerium tut einiges für die Lehrergesundheit. Landesweit gibt es verschiedene Präventionsprogramme. Dazu gehört auch das an der Uniklinik Freiburg entwickelte Lehrercoaching, mit dem wir landesweit pro Schuljahr bis zu 1 000 Lehrer erreichen, die in Coachinggruppen Belastungen fallbezogen reflektieren und Bewältigungsstrategien entwickeln. Diese Sitzungen werden von approbierten Psychotherapeuten moderiert, die in unserem Konzept geschult wurden. Das ist in Deutschland absolut einmalig! Unsere Begleitforschung zeigt, dass das Coaching von den Teilnehmern sehr positiv bewertet wird und die meisten ganz konkret profitieren und ihre Gesundheit verbessern oder erhalten können.

Was ist mit Lehrern, die bereits eine Stresssymptomatik oder psychosomatische Erkrankung aufweisen?

Keine Frage, der Bedarf ist groß. Aber gerade bei Stress und psychosomatischen Erkrankungen spielt das Kollegium eine wichtige Rolle. Es braucht eine Akzeptanz- und Unterstützungskultur. Schulintern fehlt es oft an Gesprächskreisen, in denen Reflektionsprozesse stattfinden, die dem Team insgesamt helfen, Belastungsfaktoren zu minimieren oder besser zu bewältigen. Lehrerkonferenzen oder ein kurzer Austausch über schwierige Schüler reichen dazu nicht. Pädagogen, die einen Leidensdruck haben, können aber zum Beispiel auch die schulpsychologischen Beratungsstellen aufsuchen oder die Heil- und Sozialpädagogen, die in vielen Schulen arbeiten. Dass es diese Möglichkeit gibt ist gut, aber es braucht auch hier mehr Personal.

Trotz vieler Belastungsfaktoren und hoher Frühverrentungsquote fallen die Krankheitstage bei der Berufsgruppe Lehrer am geringsten aus. Wie kommt das?

Lehrer bringen ein hohes Berufsethos mit. Sie merken, wenn sie ausfallen, müssen die Kollegen einspringen. Ohne vollständig genesen zu sein, kehren sie daher an den Arbeitsplatz zurück und das obwohl die Wahrscheinlichkeit einer erneuten und stärkeren Erkrankung groß ist. Das ist ein Teufelskreis. Der aktuelle Lehrermangel verschärft die ohnehin schwierige Situation.

Sind die Rektoren geschult Überforderung zu erkennen?

In aller Regel sind die Schulleiter dafür sensibilisiert Symptome wie Erschöpfung, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und alles was auf psychosomatische Probleme hinweist zu erkennen. Aber zwischen 7.15 Uhr und 8 Uhr sind die Rektoren unter Hochdruck, weil Krankmeldungen kompensiert werden müssen, damit der Regelbetrieb funktioniert. Ständig wandeln sich Schulkonzepte, Lehrpläne und dergleichen. Der Verwaltungsaufwand ist gestiegen, da bleibt zu wenig Zeit für den Bedarf der Belegschaft.

Und was machen die Referendare, die während der Ausbildung eigentlich Unterstützung brauchen, um in der Praxis zurechtzukommen?

Die Referendare sind einem enormen Druck ausgesetzt. Auf die Lehramtskandidaten kommen vielfältige Anforderungen zu: Unterrichtsorganisation, weitere Wissensaneignung für den eigenen Unterricht, Vernetzung, pädagogische Aufgaben und Schwierigkeiten, Klassenpflege, Termin- und Selbstorganisation. Oft werden die Lehramtskandidaten auch für Sonderaufgaben wie Verbindungslehrkraft, Schüleraustausch, Ausflüge oder Präventionsbeauftragter herangezogen. Außerdem haben sie noch keine feste Anstellung und sind auf die Bewertung angewiesen. Eine erst kurze Anwesenheitszeit an der Schule sowie die Angst vor schlechten Schulleitungsbeurteilungen machen ein „Nein“ der Berufsanfänger zu oft unmöglich.

Und dann kommen noch die beschriebenen Rahmenbedingungen dazu.

Die Gefahr, dass die Referendare überfordert werden ist groß. Die persönliche Entwicklung als Lehrer braucht Zeit. Dazu ist die Unterstützung und Begleitung durch erfahrene Mentoren nötig, die helfen die pädagogischen Herausforderungen zu meistern, die Kooperation mit Kollegium und Schulleitung aufzubauen, aber auch die Beziehungsgestaltung mit Schülern zu erlernen. So werden angehende Fachkräfte, die ihr ganzes Berufsleben noch vor sich haben, entlastet.

Findet in der Lehrerausbildung eine Vermittlung von Kenntnissen in Sachen Arbeits- und Gesundheitsschutz statt?

Eine Aufklärung findet sicherlich statt. Aber nicht nur in der Lehrerausbildung, sondern auch für all jene, die voll im Berufsleben stehen, sollte es Intensiv- und Aufbaukurse geben. Dazu zählt beispielsweise die Vermittlung von Deeskalationsstrategien oder Kenntnissen der Stress- und Konfliktbewältigung. Landesweit gibt es viele lokale Präventionsprogramme die wichtig sind und die sich so sinnvoll ergänzen lassen, um die Arbeitsfähigkeit und Gesundheit von Lehrkräften möglichst lange zu erhalten und zu fördern.

 

Informationen zur landesweiten Lehrer-Coachinggruppe finden Sie unter: 

https://lehrer-coachinggruppen.de

 

 


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