„Es gibt wunderbare junge Schriftsteller in Baden-Württemberg“

23.03.2012 
Redaktion
 
Interview
Foto: privat

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Wassserburg. Martin Walser gilt als einer der renommiertesten, aber auch umstrittensten Schriftsteller in Deutschland. Geboren am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee ist er seiner Heimat treu geblieben. Am Samstag feiert er seinen 85. Geburtstag. Mit dem Staatsanzeiger hat er über die Schriftstellerei, Politik und Literaturvermittlung gesprochen. Teil eins des Interviews finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Staatsanzeigers vom 23. März 2012.        

Staatsanzeiger: Rechtzeitig zu Ihrem Geburtstag  ist ein Buch herausgekommen, in dem Sie sich mit der theologischen und philosophischen Frage der Rechtfertigung beschäftigen. Man hat den Eindruck, hier bestellt einer geistig sein Haus. Ist das Zufall?  

Martin Walser: Zufälle gibt es nicht. Der Text ist zustande gekommen, weil ich im vergangenen Jahr in Harvard eingeladen war, zum 9. November — Reichspogromnacht, Mauerfall — eine Rede zu halten. Wenn ein deutscher Autor zum 9. November spricht, dann kann man sich vorstellen, was dort erwartet wird. Ich kam zu der Überzeugung, dass ich den historisch-politischen Erwartungen nicht gerecht werden könnte. Der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Rechthaben wurde schließlich mein Thema. Dazu musste ich Einschlägiges aufarbeiten.  

Abgesehen von Ihrer Rede in Harvard: Die Frage nach Rechtfertigung durch Gnade oder gute Werke taucht in ihrer literarischen Arbeit auch auf.

Im Roman „Muttersohn“ gibt es ein Kapitel, das heißt „Mein Jenseits“. Da wird sehr viel vom Glauben gesprochen. Zu diesem Thema habe ich Karl Barth gelesen. Das war für mich eine ganz wichtige, eine entscheidende Lektüre. Ich musste zurück zu Augustinus, auch zu Camus. Da begriff ich, dass wir es der Religion zu verdanken haben, dass Rechtfertigung überhaupt noch ein Thema ist. In der Welt ohne Religion ist die Frage der Rechtfertigung heruntergekommen zum Rechthaben. Ich habe ja mein Leben im Reizklima des Rechthabens verbracht.  

Sie können auf ein großes literarisches Werk zurückblicken. Ist diese Arbeit eine Art Rechtfertigung in Ihrem Leben?  

Ja, das kann man sagen. Ich weiß bei jedem Buch genau, warum ich es geschrieben habe. Es bleibt die Lage im Gedächtnis, die zu dem oder jenem Buch geführt hat. Ich habe bei keinem Buch das Gefühl gehabt, dass ich es freiwillig geschrieben habe, dass ich souverän wählen konnte. Es gab immer die Notwendigkeit für etwas. Der Anlass zum Schreiben war immer ein Mangel. Mir fällt ein, was mir fehlt. Wenn mir nichts fehlen würde, dann würde ich etwas anderes tun.  

Wollen Sie mit Ihren Büchern etwas gesellschaftlich bewirken?  

Nein. Man darf das nicht ins Entweder-Oder quälen. Man schreibt aus seinem eigenen Bedürfnis heraus. Wenn ich erfahren habe, wie Abhängigkeit mich deformiert, schreibe ich einen Roman darüber. Ich will wissen, ob ich mit meiner Erfahrung allein bin oder ob es anderen auch so geht. Es wäre sinnlos zu glauben, man könne mit Literatur etwas ändern. Das habe ich nicht nötig. Es genügt, etwas zu veröffentlichen und zu sehen ob es wirkt und wie es wirkt.  

Sie sollen einmal gesagt haben, das Altwerden sei die größte Gemeinheit des Lebens. Gibt es nicht auch positive Seiten des Alterns?  

Es ist sicher so. Jede allgemeine Aussage über das Alter ist eo ipso falsch. Ich kann einen anderen Satz von mir dagegen stellen: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Als Autor sehe ich, dass ich jetzt Bücher schreibe, die ich vor 20 Jahren nicht hätte schreiben können, nicht hätte schreiben wollen. Du bis anders gesonnen, anders gestimmt, anders bestimmt. Das ist eine eindeutige Erfahrung. Das hat mir etwas gebracht.  

Wie ist das Verhältnis zu Weggefährten, die mit Ihnen alt geworden sind — Günter Grass oder Marcel Reich-Ranicki beispielsweise. Lösen sich die Spannungen, die es mit ihnen gegeben hat, im Alter auf?  

Wenn Grass und ich Spannungen hatten, waren sie immer politisch bedingt. Meistens kam das Bedürfnis zur Kritik von ihm, ich hätte etwas nicht gut gemacht. Er hat mich manchmal getadelt, weil ich das und das gesagt oder etwas zu leicht genommen habe. Die politischen Auseinandersetzungen sind zum Glück vorbei. Es gibt vielleicht noch einen oder zwei, mit denen ich mich so ausgesöhnt fühle, wie mit ihm. Es ist wunderbar, ihn zu treffen, mit ihm zu reden.  

Und Reich-Ranicki?  

Es gab durch Dritte Versuche, ihn — wie man so sagt — friedlich zu stimmen. Das ist offenbar nicht gelungen.  

Nehmen die Medien Ihre Aufgabe in der Literaturvermittlung noch angemessen wahr?  

Für den Autor ist die Auseinandersetzung mit Literatur in den Medien ein unverzichtbares Echo auf seine Arbeit. Es ist ein unersetzbarer Spiegel. Egal ob die Veröffentlichungen  mehr kritisch oder mehr zustimmend  sind, beides ist für den Autor eine wichtige Erfahrung. Auch wenn du meinst, der Kritiker versteht dich falsch, machst du eine Erfahrung. Wenn er dich versteht, macht er dich ein Stück mehr lebensfähig. Darauf hätte ich nie verzichten wollen. Wenn es das lebhafte Hin und Her nicht gäbe, ich weiß nicht, ob man dann genau so weiter schriebe.  

Das Gespräch führte Harald Raab  


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