Stuttgart. Im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 will die Landesregierung Gegner und Befürworter wieder zum Dialog bringen. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), der Monate lang einen harten Kurs gefahren hat, möchte nach den schlimmen Ausschreitungen vom 30. September die Lage entschärfen. In seiner 54 Minuten langen Regierungserklärung ging er am Mittwoch im Stuttgarter Landtag auf den Vorschlag von Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann ein, den früheren CDU-Generalsekretär — und Bundesminister Heiner Geißler als Vermittler einzusetzen. Das 80 Jahre alte Attac-Mitglied Geißler soll als Schlichter die prekäre Lage wegen des Milliarden-Projekts in der Landeshauptstadt entschärfen. Ob das Vorhaben des Regierungschefs zur Deeskalation gelingt, bleibt abzuwarten: Die Oppositionsparteien Grüne und SPD sowie das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 akzeptieren Geißler zunächst als Vermittler.
Nach der Eskalation bei der Einrichtung der Baustelle zum Fällen von Bäumen im Schlosspark in Stuttgart, als durch den massiven Polizeieinsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray Menschen verletzt worden waren, schlug Mappus vor dem Parlament versöhnliche Töne an. „Um zusätzliches Vertrauen aufzubauen, führt dieser Weg aus meiner Sicht über einen unparteiischen Vermittler, der alle Seiten einbezieht — ohne Vorbedingungen, so wie ich es mehrfach vorgeschlagen hatte“, sagte der Regierungschef. Er sei davon überzeugt, dass es Geißler gelinge, einen „guten Gesprächsfaden zu knüpfen“. Der in Oberndorf am Neckar geborene frühere CDU-General kenne das Land und genieße Ansehen über Parteigrenzen hinweg. Der Querkopf hat sich bereits als Schlichter in Tarifauseinandersetzungen einen Namen gemacht.
Der Ministerpräsident zählte in seiner Rede die Vorteile des „für ganz Baden-Württemberg entscheidenden Bahnprojekts“ auf. „Baden-Württemberg braucht Stuttgart 21“, erklärte er; es habe mit der Neubaustrecke nach Ulm überragende strategische Bedeutung für den Lebens-, Wirtschafts- und Arbeitsstandort Baden-Württemberg. Das Projekt schaffe Arbeitsplätze, biete Stuttgart eine historische städtebauliche Chance und habe große ökologische Vorteile. Stuttgart 21 mache die Bahn attraktiver und schaffe neue Direktverbindungen mit kürzeren Fahrzeiten. Mappus schlug vor, die Region Stuttgart zu einer „Musterregion für nachhaltige Mobilität“ zu machen. Zu den steigenden Kosten meinte der Regierungschef, Großprojekte brächten hohe Kosten mit sich, aber auch große Chancen. Zudem gehe Stuttgart 21 nicht zu Lasten anderer Bahnprojekte im Land.
Der Ministerpräsident sagte, das Projekt sei demokratisch voll legitimiert, der Alternativvorschlag K 21 ein Phantom. Deshalb stehe er „ohne Wenn und Aber“ zur Vertragstreue, zum Mehrheitsprinzip, zur Rechtssicherheit und zu Stuttgart 21. Gleichzeitig betonte Mappus, die Szenen im Schlossgarten dürften sich nicht wiederholen. „Auch mich haben die Bilder berührt. Unser Mitgefühl ist bei den Verletzten auf beiden Seiten.“ Die Proteste müssten friedlich und legal bleiben. „Der Streit um ein Eisenbahnprojekt darf nicht dazu führen, dass Menschen verletzt werden — weder unter den Demonstranten noch unter unseren Polizistinnen und Polizisten.“
Grünen-Fraktionschef Kretschmann griff die Landesregierung wegen des Polizeieinsatzes an. Dieser sei am Tage einer Schüler-Demo unverantwortlich gewesen. Für den Konfrontationskurs der Polizei habe es keinen Grund gegeben. Mappus warf er vor, sich nicht bei den Opfern entschuldigt zu haben. Außerdem nehme die Regierung die Proteste nicht ernst. Kretschmann hegte Zweifel an den geplanten Vermittlungsgesprächen, wenn Mappus einen Baustopp ablehne. „Was sollen Gespräche dann für einen Sinn haben? Dann tragen wir nur Monologe vor, und das kann es nicht sein.“ Er forderte erneut einen „Bau- und Vergabestopp“. Mappus solle sich zudem für den harten Polizeieinsatz entschuldigen. „Diese Stadt und dieses Land ist tief schockiert über diese Polizeiaktion“, sagte Kretschmann.
Auch der SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid verlangte einen Baustopp und bekräftigte die Forderung nach einem anschließenden landesweiten Volksentscheid. „Ich bin überzeugt, dass dann mit verstärkter demokratiscanscher Legitimation das Projekt zu Ende geführt werden kann“, sagte Schmid. Die SPD stehe nach wie vor zu dem Bauvorhaben. Durch seinen rigiden Kurs habe Mappus erreicht, dass auch Befürworter des Projekts „Zweifel haben“. Schmid warf dem Oberbürgermeister von Stuttgart, Wolfgang Schuster, Ex-Ministerpräsident Günther Oettinger, Innenminister Heribert Rech und Mappus (alle CDU) vor, es jahrelang versäumt zu haben, die Menschen vom Projekt zu überzeugen. Für den völlig überflüssigen und aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz machte er die Regierung verantwortlich. Rech sei seiner politischen Verantwortung nicht gerecht geworden. „Ich fordere Sie deshalb auf, selbst die Konsequenzen zu ziehen.“
Es gehe jetzt um Lösungen, erklärte CDU-Fraktionschef Peter Hauk. Seine Partei wolle den Dialog mit den Gegnern. Hauk sagte, die CDU wolle nicht gegen die Menschen regieren, sie wolle aber, dass transparent getroffene Mehrheitsentscheidungen akzeptiert würden. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke forderte ebenfalls zu einer Versachlichung auf. Deshalb sollten die Projektgegner zu Gesprächen mit dem Mediator Geißler an den Verhandlungstisch zurückkehren. Den Grünen warf der Liberale vor, sich von den Verkehrswegen Straße, Luft und Schiene verabschiedet zu haben. Rülke sagte, ein Ausstieg würde das Land bis zu 1,4 Milliarden Euro Schadenersatz kosten. Gleichzeitig sprach er sich für mehr direkte Demokratie aus; Bürgerentscheide müssten aber zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt werden.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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