"Ein Lehrer ist vor allem Beziehungsgestalter"

22.11.2013 
Redaktion
 
Interview
Foto: privat

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Stuttgart. Wolfgang Schöberle, Direktor des Staatlichen Seminars für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien und Sonderschulen) in Stuttgart spricht mit Staatsanzeiger.de über die Ausbildung von Gymnasiallehrern. Und über die anstehende Reform in Sachen Lehrerbildung. 

Staatsanzeiger.de: Welchen Ausbildungsweg durchläuft ein Gymnasiallehrer?

Wolfgang Schöberle: Die erste Phase der Ausbildung findet für angehende Gymnasiallehrer an der Universität statt. Sie dauert zehn Semester und dient in erster Linie dem Erwerb der fachwissenschaftlichen Kompetenz, in der Regel in zwei Fächern. Aber auch in der Fachdidaktik, in Pädagogik und Psychologie werden erste Grundlagen gelegt. Zudem gibt es Praxisphasen: ein Zweiwöchiges Orientierungspraktikum zu Beginn des Studiums und ein 13-wöchiges Praxissemester nach der Zwischenprüfung, in dem sich die angehenden Lehrer das erste Mal im Unterricht erproben und dabei auch ihren Berufswunsch noch einmal überprüfen können. Die erste Phase steht unter dem Primat der Theorie und der Fachwissenschaft. Dementsprechend wird sie mit einer schriftlichen und mündlichen wissenschaftlichen Prüfung, dem ersten Staatsexamen, abgeschlossen.  

Und die zweite Phase?

Sie ist das Referendariat. Es dauert 19 Monate und beginnt  im Januar mit einem Vorkurs an einem Staatlichen Seminar für Lehrerbildung. Der Vorkurs knüpft an das Praxissemester an und frischt die fachdidaktischen und pädagogischen Kenntnisse auf. Das Referendariat bildet so die Brücke von der Wissenschaft zur Schulpraxis. Es findet an zwei Ausbildungsorten statt: an Ausbildungsgymnasien und Staatlichen Seminaren. Dieses duale System hat sich hervorragend bewährt, weil es Theorie und Praxis eng miteinander verzahnt.  

Die Unterrichtsversuche der Referendare werden von Fachleitern der Seminare und den Mentoren an den Schulen begleitet und mit den Referendaren in Beratungsgesprächen reflektiert und ausgewertet. Am Ende steht eine pädagogischen Prüfung, das zweite Staatsexamen. Zu den Prüfungsleistungen gehören Lehrproben in beiden Unterrichtsfächern, die Dokumentation und Reflexion einer Unterrichtseinheit und mündliche Prüfungen in Fachdidaktik, Pädagogik und Schulrecht.  

Worauf wird am Seminar Wert gelegt?  

Am Seminar geht es, verkürzt gesagt, darum, aus den Fachexperten Kommunikationsexperten für den Umgang mit Schülern - und auch mit Eltern - zu machen. Ein Lehrer ist vor allem Beziehungsgestalter. Er muss zum Beispiel in der Lage sein, eine lernförderliche Atmosphäre zu schaffen, es schaffen, den einzelnen Schüler wie auch die ganze Gruppe zu motivieren und die Motivation aufrecht zu erhalten.  Dafür braucht er neben einem breiten Methodenrepertoire  vor allem Wissen darüber, wie die Kommunikation mit einer Lerngruppe oder mit dem einzelnen Schüler gelingen kann. Wir sorgen am Seminar dafür, dass die angehenden Lehrer dieses Wissen in konkreten Situationen anwenden können.  

Was ist das Ziel dabei?

Es geht nicht einfach darum, den Referendaren Grundprinzipien oder gar eine Rezeptologie  für die Unterrichtsgestaltung, die Gesprächsführung oder für die fachdidaktische Reduktion von wissenschaftlichen Inhalten zu vermitteln. Wir versuchen vielmehr, die Referendare zu selbstständiger und theoretisch fundierter Praxisreflexion und Selbstreflexion anzuleiten. Ziel ist die Anbahnung einer forschenden Grundhaltung gegenüber dem eigenen Handeln. Deshalb halten wir die Referendare etwa dazu an, sich gegenseitig im Unterricht zu besuchen und Feedback zu geben. Im Sinne einer ganzheitlichen Lehrerbildung versuchen wir außerdem, die Referendare in ihrer Persönlichkeit zur stärken. Dafür gibt es an unserem Seminar neben der Ausbildung in praktischer Rhetorik auch spezifische Vertiefungsangebote zur Verbesserung der Auftrittskompetenz mit theaterpraktischen Methoden, zum Umgang mit Unterrichtsstörungen oder zum Umgang mit Stress und beruflichen Belastungen.    

Ist ein Junglehrer nach Abschluss der Ausbildung auf die Herausforderungen des Schulalltags gut vorbereitet?

Durch verschiedene Novellierungen der Wissenschaftlichen Prüfungsordnung für die erste Phase und der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die zweite Phase wurde seit 2001 die Praxis- und Berufsfeldorientierung der Gymnasiallehrerausbildung deutlich verbessert. Insgesamt kann man sagen, dass die Referendare auf den Berufseinstieg im Wesentlichen gut vorbereitet sind. Allerdings verhält es sich bei der Lehrerausbildung in gewisser Weise wie beim Autofahren: Mit dem Führerschein ist man noch kein versierter Autofahrer und mit der Lizenz zu unterrichten ist man noch kein wirklicher Experte für das Lehren und Lernen. Heute geht die Forschung zur Lehrerprofessionalität davon aus, dass Lehrerbildung ein berufsbiographischer Prozess ist,  sie ist also mit der Ausbildung nicht abgeschlossen. Die Lehrerexpertise muss sich auch nach der Ausbildung weiterentwickeln und mit zunehmender Praxiserfahrung ständig weiter ausgebaut werden.

Dementsprechend unterscheidet man neben den schon beschriebenen Phasen der Ausbildung noch eine dritte Phase, die sogenannte Berufseingangsphase, mit der das Weiterlernen im Beruf beginnt. Die Berufseingangsphase ist eine besonders kritische Phase, weil bei mangelnder Unterstützung ein früher Burnout droht. Diese Phase ist in Baden-Württemberg und in den meisten anderen Bundesländern bisher nur ungenügend ausgebaut. Das heißt es gibt kein systematisches oder gar verpflichtendes Fortbildungs- oder Unterstützungsangebot.  

Wie gehen die Jung-Lehrer mit der Vielfalt in ihren Klassen um?

Das Thema Umgang mit Heterogenität, das Sie mit Ihrer Frage ansprechen, hat verschiedene Facetten. Deshalb muss man hier differenzieren. Auf den Umgang mit unterschiedlich leistungsfähigen Schülern werden die Referendare gut vorbereitet. Themen wie Diagnose, Binnendifferenzierung und individuelle Förderung sind inzwischen zentrale Bestandteile der Ausbildung. Ähnliches gilt auch für den Umgang mit kultureller Heterogenität. In der Pädagogik und insbesondere in den modernen Fremdsprachen beschäftigen sich die Referendare etwa mit Theorie und Praxis des interkulturellen Lernens und konkret auch damit, auf welche Weise Schüler unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Herkunft den Unterricht bereichern können.

Für die Vorbereitung auf den Umgang mit Schülern, die einen spezifischen sprachlichen oder sonderpädagogischen Förderbedarf haben, bleibt im Pflichtbereich der Ausbildung bisher keine Zeit. Für diese Themen können wir die Referendare bisher nur im Rahmen von freiwilligen Zusatzangeboten sensibilisieren. So bieten wir im Ergänzungsbereich schon länger Lehrveranstaltungen zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache an und neuerdings in Zusammenarbeit mit unserer Sonderschulabteilung auch ein Ausbildungsmodul zum Lehren und Lernen in inklusiven Settings.  

Sollte sich an der Lehrerausbildung etwas ändern?

Zunächst möchte ich darauf eingehen, was sich nicht ändern sollte. Auf keinen Fall darf der Umfang der fachwissenschaftlichen Studienanteile in der ersten Phase weiter reduziert werden. Denn ein Lehrer kann nur auf der Grundlage eines souveränen Überblicks für sein Fach auch die richtigen fachdidaktischen Entscheidungen treffen. Wenn man jüngsten Presseberichten glauben darf, dann plant die Regierung die Umstellung der Lehrerausbildung vom Staatsexamen auf das Bachelor/Master-Modell. Dies halte ich zumindest für problematisch. Das BA/MA-Modell bietet nur dann gewisse Vorteile, wenn das Bachelor-Studium polyvalent gestaltet wird, so dass es auch zu einem ersten berufsqualifizierenden, das heißt fachorientierten Abschluss führen kann.

Dies hieße jedoch, dass auch der Lehramts-Bachelor weitgehend fachorientiert gestaltet und die pädagogischen und fachdidaktischen Anteile fast ganz in den Master verlagert werden müssten. Eine solche Studienstruktur widerspricht jedoch den Erkenntnissen der Expertiseforschung. Das fachliche, das fachdidaktische und pädagogische Wissen muss von Anfang an miteinander vernetzt werden, wenn es für die Praxis wirksam werden soll.

Was ist der Vorteil des Staatsexamens?

Es hat sich bestens bewährt. Lehrer mit erstem und zweitem Staatsexamen haben auch in der freien Wirtschaft gute Chancen. Außerdem ist es für den Staat bei Staatsprüfungen leichter, die Vergleichbarkeit der Abschlüsse und die Ausbildungsqualität zu sichern als bei BA/MA-Studiengängen, die alleine von der Universität verantwortet werden.  

Was sollte sich ändern?

Unabhängig von der Strukturfrage gibt es in der Gymnasiallehrerausbildung durchaus Optimierungsbedarf. So erfüllt das bisherige Orientierungspraktikum seine Funktion nur unzureichend, unter anderem weil es mit zwei Wochen zu kurz und gleich zu Beginn des Studiums viel zu früh angesiedelt ist. So gelingt den meisten Studenten der Wechsel von der Schüler- in die Lehrerperspektive nicht wirklich. Es sollte deshalb frühestens nach dem zweiten Semester absolviert, auf vier Wochen verlängert und zusätzlich von Fachleitern der Seminare begleitet werden. Dann könnten die Studenten ausreichende praktische Erfahrungen sammeln, um auf dieser Grundlage mit Hilfe der professionellen Beratung der Fachleiter ihre Berufswahl und die Gestaltung des weiteren Studiums zu reflektieren. Damit wäre auch das bisherige Praxissemester  - das sich im Übrigen hervorragend bewährt hat – von der Orientierungsfunktion entlastet, könnte etwas später im Hauptstudium angesiedelt werden und dann in Form eines Professionalisierungspraktikums eine noch direktere Brücke zum Vorbereitungsdienst bilden.

Die Ausbildung in der ersten Phase sollte außerdem durch eine bessere Abstimmung und Verzahnung der fachwissenschaftlichen, fachwissenschaftlichen und pädagogischen Veranstaltungen optimiert werden. Hier gibt es - etwa im Rahmen der Kooperation zwischen der Universität und dem Seminar Stuttgart - schon ermutigende Ansätze. So müssen Germanistikstudenten die Vorlesung zur Schulgrammatik besuchen, wenn sie zum Fachdidaktikseminar Deutsch zugelassen werden wollen. Das Seminar gestaltet dann der Linguistikprofessor im Tandem mit einer Fachleiterin Deutsch des Seminars. Auf dieses Weise wird außerdem gewährleistet, dass die fachwissenschaftlichen Inhalte auch für die Schule relevant sind, was bisher nicht immer der Fall ist.  

Muss sich auch an den Universitäten etwas ändern?

Die Lehr-und Lernkultur muss sich weiterentwickeln. Hier sollten wir von den amerikanischen Eliteuniversitäten lernen. Dort stellen die Professoren ihre Vorlesungen oder Präsentationen ins Netz. Dann können die Präsenzphasen an der Universität besser genutzt werden, zum Beispiel für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen oder Problemen. Nur so kann tieferes Verständnis und damit nachhaltiges Lernen gesichert werden. Momentan wird am meisten über einen besseren Umgang mit Heterogenität diskutiert. Auch hier gibt es Optimierungsbedarf. Die Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem und sprachlichem Förderbedarf an Gymnasien wird weiter zunehmen. Das heißt künftige Gymnasiallehrer brauchen zumindest grundlegendes Wissen und Kompetenzen in den Bereichen inklusive Bildung und Deutsch als Zweitsprache.

Wirklich wirksam werden kann solches Wissen jedoch nur, wenn es nicht theoretisch bleibt, sondern mit praktischen Erfahrungen verknüpft wird. Dies gilt für die Themenbereiche Inklusion und sprachliche Bildung in besonderer Weise. Deshalb halte ich die Verortung dieser Themen in der ersten Phase – so wie es die Expertenkommission Lehrerbildung für Baden-Württemberg vorgeschlagen hat – für falsch. Diese Themen sollten sinnvoller in den Pflichtbereich des Referendariats integriert werden, weil dort die Praxisanbindung garantiert ist. Außerdem gibt es an verschiedenen Gymnasialseminaren schon Erfahrungen mit freiwilligen Ausbildungsangeboten zu diesen Themen, auf die man aufbauen könnte.  

Müsste man bei all den Themen nicht das Referendariat verlängern?

Eine Wiedereinführung des Zwei-jährigen Referendariats böte den idealen Rahmen für eine gleichermaßen theoretisch und praktisch fundierte Ausbildung in den Bereichen Inklusion und Deutsch als Zweitsprache und außerdem die Möglichkeit, weitere zentrale Themenbereiche wie Diagnose und individuelle Förderung noch stärker als bisher zu akzentuieren. Wie bereits erwähnt, ist die Berufseingangsphase eine ebenso wichtige wie kritische und trotzdem bisher weitgehend vernachlässigte Phase der Lehrerbildung. Für diese Phase empfiehlt die Expertenkommission meines Erachtens zu Recht, den Junglehrern Zeit für das berufliche Weiterlernen zur Verfügung zu stellen und systematische, bedarfsorientierte Fortbildungsmöglichkeiten anzubieten. Diese Angebote sollten kohärent auf dem Vorbereitungsdienst aufbauen und dementsprechend auch von den Staatlichen Seminaren verantwortet und durchgeführt werden.  


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