STUTTGART. Vor 100 Jahren fiel der Startschuss für den Ausbau des Neckars zur Schifffahrtsstraße. Das damalige Deutsche Reich gründete am 1. Juni 1921 eine eigene Gesellschaft, um den Neckar von Mannheim bis Plochingen zur Großschifffahrtsstraße auszubauen. Finanziert wurde dies im Wesentlichen von der Neckar AG, heute ein Tochterunternehmen der EnBW, über den Aufbau einer Stromversorgung aus Wasserkraft. Thorsten Koch, kaufmännischer Vorstand der Neckar AG und Leiter Controlling Erneuerbare Energien bei der EnBW, spricht im Interview über die Historie der Wasserkraft und wie die Neckar AG mit der Hyperinflation zurechtkam.
Staatsanzeiger: Was hat sich bei der Wasserkraft in 100 Jahren geändert?
Thorsten Koch: Die Anlagen sind im Kern heute immer noch die Anlagen, die vor 100 Jahren gebaut wurden. Die Maschinentechnik hat sich im Grunde nicht verändert. Die Anlagen werden größtenteils nur revidiert, nicht neu gebaut. Klar gibt es Möglichkeiten die Anlagen weiter zu verbessern und die Wirkungsgrade zu steigern. Das nutzen wir auch. Verändert hat sich in dieser Zeit, dass die Wasserkraft früher sehr regional vor Ort die Bevölkerung mit Strom versorgt hat. Heute ist sie über die Netze Teil des gesamten Energiesystems. Auch gab es vor 100 Jahren keine Smartphones oder Computer. Die Menschen haben die Maschinen von Hand vor Ort bedient. Heute haben wir ganz andere Möglichkeiten, die Anlagen aus der Ferne zu überwachen.
Der Neckar ist aber in erster Linie eine Wasserstraße.
Genau. In unserer Leitwarte in Rockenau (siehe Foto) werden deshalb nicht nur alle Wasserkraftanlagen überwacht. Da der Neckar eine Wasserstraße ist, ist tatsächlich die Hauptaufgabe der Wasserkraftanlagen die Wasserführung. Zwischen jeder Staustufe befindet sich quasi eine Badewanne. Da muss genauso viel Wasser raus wie rein fließen. Denn der Pegel, so die Vorgabe, darf nur wenige Zentimeter schwanken. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Denn den Neckar schiffbar zu machen, war der Hauptgrund für den Ausbau. Man wollte Güter transportieren und die Industrialisierung vorantreiben. Verändert hat sich vor allem die Art und Weise des Betriebs. Früher mussten die Mitarbeiter direkt um die Anlage herum wohnen, um sicherzustellen, dass auch in Notfallsituationen schnell reagiert werden konnte. Die Menschen haben damals mit der Anlage gelebt.
Thorsten Koch
Foto: Neckar AG
Der Ausbau der Wasserstraße und der Bau von Wehren, Schleusen und Wasserkraftanlagen erfolgte über die Neckar AG. Wie kam es zu dieser Kombination?
Das primäre Ziel war die Schiffbarmachung des Neckars. Man war damals aber sehr visionär und hat erkannt, dass man die Chance nutzen kann, den Großraum Ludwigsburg, Esslingen, Stuttgart zu elektrifizieren und damit verbunden dann auch die Schiffbarmachung zu finanzieren. Es hatte nicht nur den Aspekt, den technologischen Fortschritt in der Region zu fördern, sondern auch die Finanzierung des ambitionierten Ausbauprogramms sicherzustellen und so hat man die Neckar AG gegründet. Die Neckar AG hatte den Auftrag, alles zu bauen: Jede Staustufe besteht dabei aus drei Komponenten: Dem Wehr, der Wasserkraftanlage und der Schleuse. Die Neckar AG hatte die Aufgabe, die komplette Staustufe zu bauen. Sobald eine Staustufe fertig war, ist der Anteil Wehr und Schleuse an den Bund oder früher an das Deutsche Reich übergegangen. Der letzte Teil vor 30 Jahren.
Otto Konz, dessen Namen man auch immer wieder auf Straßenschildern oder Brücken liest, war der erste Vorstand der Neckar AG.
Und er war ein echter Visionär. Er hatte nicht nur den Plan für den gesamten Bau im Kopf, sondern er hatte auch die Möglichkeit, diesen Plan fast komplett zu realisieren. Man muss sich vorstellen: Wir sind im Jahr 1921. Deutschland hat gerade den ersten Weltkrieg verloren und läuft auf eine Hyperinflation zu. Dennoch wird so ein riesiges Infrastrukturprojekt umgesetzt. Das finde ich schon per se sehr beeindruckend.
Sie sprechen die Hyperinflation an. Im Geschichtsunterricht hatten wir früher Bilder von Menschen, die ihren Lohn in großen Einkaufstüten abgeholt haben.
Das war auch bei der Neckar AG nicht einfach. Das beschreibt Otto Konz in seinen Memoiren. Die Neckar-Aktiengesellschaft hat in jenen Zeiten anfangs wöchentlich einen, später zwei ihrer Angestellten zur Abholung von Geld in einer Nacht nach Berlin und in der folgenden Nacht zurück nach Stuttgart geschickt. Ein Angestellter des Neckarbauamts in Heidelberg stand am Zug in Osterburken für die Übernahme des in diesem Bezirk erforderlichen Geldes bereit und in Stuttgart erhielten die Unternehmer für die Bauten in Stuttgart und Heilbronn das aus Berlin abgeholte Geld so rechtzeitig, dass sie ihre Arbeiter noch am gleichen Vormittag vor dem Währungskurswechsel auszahlen konnten. Fehlte darüber hinaus noch Geld, haben die größeren Städte im Neckartal mit selbstgefertigtem Stadtgeld ausgeholfen. Das war allerdings nur in ihrem jeweiligen Bereich gültig.
Konnten die Arbeiten die ganze Zeit weiterlaufen?
Nein. Im Jahr 1922 wurde an sieben Staustufen gleichzeitig gearbeitet. Aufgrund der starken Geldentwertung wurden die Arbeiten an drei Staustufen Ende 1922 unterbrochen. Otto Konz hatte sich vehement dagegen gewehrt. In seinen Memoiren begründet er dies so: „Weil ich nie begriffen habe, dass man in Zeiten, in denen der Wert des Geldes immer weiter sinkt und die Papiergeldfabrikation immer mehr glüht, nicht baut, was überhaupt gebaut werden kann.“
Die Herausforderungen waren damals also groß.
Es war echte Pionierarbeit. Nicht nur technisch. Auch finanziell. Stichwort Aktiengesellschaft, Stichwort Querfinanzierung. Mit dem Kraftwerksbau wurden die Wehre und Schleusen finanziert. Hinzu kam die Hyperinflation. Damals hat man es mit viel Visionen und gemeinsamer Tatkraft geschafft, neue Technologien zu etablieren. Und genau vor dieser Herausforderung stehen wir auch heute, was den Ausbau von Wind- und Solarkraft angeht. Doch wir haben in über 100 Jahren gezeigt, dass wir den Ausbau und den Betrieb der erneuerbaren Energien beherrschen. Und diese Verantwortung für das Land wollen wir auch in der Zukunft gerne wahrnehmen.
Staustufe Poppenweiler während es Baus 1954 bis 55. Blick Richtung Osten (flussaufwärts) auf die Baustelle des Wehrs (Mitte), des Kraftwerks (links) und der Schleuse (rechts).
Foto: Bundesanstalt für Wasserbau Karlsruhe
Creative Commons Attribution 4.0 International License, creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Das Wehr war 1955 fertig, die Schleuse 1956.
Foto: Bundesanstalt für Wasserbau Karlsruhe
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Poppenweiler heute.
Foto: EnBW/ Jörg Franke
Die Neckar AG wurde 2021 gegründet. Hauptziel war die Schiffbarmachung des Neckars. Heute ist die Neckar AG mehrheitlich im Besitz der EnBW. Weitere Anteile halten das Großkraftwerk Mannheim (GKM), die Süwag, ein Energieversorger aus Hessen, und die Stadtwerke Esslingen.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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