Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager – Bestandsaufnahme, Perspektiven und Vernetzung

07.09.2018 
Von: Eva-Maria Schlosser
 
Redaktion
 
KZ-Gedenkstätte

Stuttgart. Vom 24. bis 26. September treffen sich haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager in Bad Urach erstmals bundesweit zur Tagung. Ziel der dreitägigen Veranstaltung mit dem Titel „Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager – Bestandsaufnahme, Perspektiven und Vernetzung“ ist es, sich zu vernetzen und die Herausforderungen der Zukunft zu diskutieren. Nicola Wenge ist wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, das die Tagung mitveranstaltet.

Staatsanzeiger: Ende September findet erstmals eine bundesweite Tagung statt. Zielgruppe sind haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der Gedenkstätten früher Konzentrationslager. Warum die Fokussierung auf diese Gedenkstätten?

Nicola Wenige: Es gibt bundesweit eine ganze Anzahl von Gedenkstätten, die an Orten früher Konzentrationslagern errichtet wurden. Sie vermitteln, wie das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm, am jeweils lokalen oder regionalen Beispiel wie die Nationalsozialisten die Weimarer Republik aushebelten, die politischen Gegner mundtot machten und eine völkisch-rassistische Zwangsgesellschaft durch Terror sowie durch Propaganda und Inklusionsangebote an „rassereine Volksgenossen“ errichteten. Diese Gedenkstätten sind einzigartige Lern-, Forschungs- und Bildungsorte für den Übergang von der ersten deutschen Demokratie zur NS-Diktatur. Doch trotz ihrer Bedeutung für die historisch-politische Bildungsarbeit kämpfen viele dieser Einrichtungen mit Herausforderungen in den Bereichen Forschung, Vermittlung und Denkmalschutz. Mit der Tagung soll ein Diskussionsforum und Begegnungsrahmen geschaffen werden, der sich an Aktive aus den Gedenkstätten und interessierte Multiplikatoren richtet. Ziel ist es, sich auszutauschen und zu vernetzen, auch konkrete Kooperationen zu verabreden, um die Arbeit abzusichern und zu stärken.

Was sind die spezifischen Herausforderungen dieser Gedenkstätten? Die spezifischen Herausforderungen sind inhaltlicher und struktureller Natur. Zunächst einmal ist das Wissen um den Nationalsozialismus bei vielen Menschen heute vom Holocaust und den Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs geprägt, also von „hinten“ überlagert, den unfassbaren Massenverbrechen. Das Wissen um die Anfänge – die Etablierung der rechtsextremen Diktatur mit dem zentralen Terrorinstrument der frühen Lager –  verblasst dahinter. Doch gerade dieses Wissen ist ein wertvolles Instrument für die Analyse der Gegenwart, in der rechtspopulistische Bewegungen und Regime die Demokratien angreifen und aushöhlen, die nationalsozialistischen Verbrechen relativieren und ein Klima von Angst, Gewalt und Hass schüren. Vor diesem Hintergrund müssten die Lern- und Erinnerungsorte, die sich explizit mit der Frage der Demokratiezerstörung befassen und die Demokratiebildung auf vielfältige Weise in ihre Arbeit integrieren, eigentlich besonders gestärkt werden. In der Realität aber kämpfen viele der Gedenkstätten mit strukturellen Herausforderungen: Sie müssen bei steigenden Besucherzahlen und Erwartungen aus Gesellschaft und Politik bei gleichzeitig knappen Ressourcen ihren wachsenden Aufgaben in Forschung und Vermittlung gerecht werden. Der historische Ort selbst wird angesichts des Verstummens der Zeitzeugen dabei immer wichtiger. Er muss deshalb in seiner baulichen Substanz und den darin erhaltenen Spuren gesichert und erschlossen werden.

Wie ist die Forschungslage?

Die aktuelle Geschichtsforschung hat die zentrale Bedeutung der frühen Lager für die Geschichte des Nationalsozialismus neu herausgearbeitet. Die Gedenkstätten haben aber noch viel zu tun, um die in den letzten Jahren zugänglich gewordenen Quellen mit neuen Fragestellungen zu ihren jeweiligen Orten, den hier inhaftierten Häftlingsgruppen, zu Wachleuten und Lagerkommandanten zu bearbeiten, auch dem Verhältnis zur Umgebungsgesellschaft nachzugehen oder den Umgang mit den Lagern nach 1945 zu analysieren. Diese Themen sind längst nicht ausgeforscht.

Wie unterscheidet sich die Vermittlungsarbeit von der anderen Gedenkstätten? Die Vermittlungsarbeit an Orten früher Gedenkstätten unterscheidet sich von anderen Gedenkstätten wohl vor allem darin, dass hier die Themen politische Verfolgung und Widerstand im Fokus stehen und viele der Besucher direkte Bezüge zur Gegenwart herstellen. Damit diese Bezüge nicht schief oder relativierend ausfallen, brauchen die Gedenkstättenmitarbeiter eine genaue historisch-politische Analysefähigkeit, um dialogisch gegen Vereinfachungen und Gleichsetzungen zu argumentieren. Das ist eine Herausforderung, gerade auch bei den immer heterogener werdenden Besuchergruppen in der Einwanderungsgesellschaft. Gleichzeitig bergen diese Orte eben auch eine besondere Chance für Vermittlungsprojekte, die Geschichte und Gegenwart miteinander in Berührung bringen und die Demokratie stärken. Wir am DZOK machen die Erfahrung, dass dies gerade jetzt wieder junge Menschen motiviert, sich für die Gedenkstättenarbeit zu engagieren.

Derzeit steht die Gesellschaft vor große Herausforderungen: Rechtes Gedankengut wird populär, demokratische Werte werden in Frage gestellt. Wie gehen die Gedenkstätten damit um?

Es gibt vielfältigste Initiativen. Die Gedenkstätten positionieren sich im öffentlichen Diskurs gegen die gezielten Tabubrüche rechtspopulistischer Parteien. Die Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg hat etwa die Geschichtspolitik der AfD in einer Stellungnahme klar zurückgewiesen. Wir dulden nicht, dass revisionistische Positionen oder gar volksverhetzende Gedanken und Gesten in den Gedenkstätten Einzug halten.

Viele der Gedenkstätten organisieren darüber hinaus Veranstaltungen und pädagogische Angebote, um den Erosionsgefahren in der Mitte der Gesellschaft vorzubeugen. Sie nehmen die Aufgabe an, Widerspruch und Widerstand in der Gesellschaft mit anderen Partnern gemeinsam zu organisieren und setzen dabei auf Aufklärung und Bildung Das DZOK etwa entwickelt gerade gezielt für Jugendliche aktive Lernangebote zum Umgang mit demokratie- und menschenverachtender Sprache, die in den sozialen Medien und im Alltag massiv zunimmt.

 

 

 


Kontakt

Ihre Ansprechpartnerin in der Redaktion

Redaktionsassistentin Staatsanzeiger
Doris Kugel
Telefon: 07 11.6 66 01-290
E-Mail senden

Unser Team

Ihr Kontakt zu unseren Redakteurinnen und Redakteuren

Zum Team

Praktikums-Tagebuch

Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger. 

Zum aktuellen Tagebuch

Der Kommunal-Newsletter

Wissenswertes zu kommunalpolitischen Themen für Sie als Gemeinderat/Gemeinderätin mit einem wöchentlichen Newsletter direkt in Ihr E-Mail-Postfach. Abonnieren Sie jetzt den 
Kommunal-Newsletter.

Newsletter abonnieren