Stuttgart. Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg müssen immer mehr Personal und Sachaufwand für Bürgerbeteiligungsverfahren bereitstellen. Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) fordert mehr Problembewusstsein für dieses Instrument der gelebten Demokratie.
Baden-Württemberg will Musterland der Bürgerbeteiligung sein. Muss auf diesem Gebiet noch mehr getan werden?
Kurz: Mehr im Sinne von qualitativer und inhaltlicher Fortentwicklung ja. Quantitativ bin ich nicht so sicher. In Baden-Württemberg wird das Instrument der Bürgerbeteiligung vergleichsweise intensiv genutzt. Es gibt kein absolutes Maß der Bürgerbeteiligung, da dies mit Reifegrad der demokratischen Entwicklung und Erfahrung zusammenhängt. In Mannheim haben wir die Beteiligungsverfahren deutlich ausgeweitet. Dazu mussten auch die Ressourcen erhöht werden.
Welche Auswirkungen hat es für den Gemeinderat, aber auch für die Verwaltung, wenn die Bürger und Bürgerinnen mehr in Diskussions- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden?
Es bedeutet zunächst mehr Zeitaufwand für alle Beteiligten, für Bürgerinnen und Bürger, vor allem aber für Verwaltung und Politik. In Mannheim stoßen wir da schon an Grenzen. Es verlangt auch spezifische Kompetenz für neue Beteiligungsverfahren. Sie beschränken jedoch - obwohl dies oft behauptet wird - nicht die Kompetenz des gewählten Gemeinderats. Ein struktureller Unterschied von Beteiligungsverfahren und Ratsdebatten ist aber zu beachten: Der Rat ist dem Gemeinwohl verpflichtet, die Bürger dürfen bei Beteiligungsverfahren ihr persönliches Interesse vertreten und sind sogar oftmals dazu aufgefordert. Eine Aufgabe wird sein, auch in Beteiligungsverfahren stärker dafür zu werben und zu sichern, dass die Interessen aller nicht aus den Augen verloren werden.
Bekommen Bürgerinnen und Bürger genügend Informationen, um sich kompetent in Beteiligungsverfahren einzubringen zu können?
Um ausreichend informiert zu sein, muss die Bürgerschaft eine Menge Zeit aufbringen. Das ist in Beteiligungsprozessen oft der Fall. Die Verwaltung stellt eine Fülle von Sachinformationen zur Verfügung. Das Problem tritt eher bei Bürgerentscheiden auf. Sind alle, die an einer Abstimmung teilnehmen, bereit, sich vorher über häufig sehr komplexe Sachverhalte ausreichend zu informieren?
Bürgerbeteiligung erfolgt zunehmend über das Internet. Ist das ein gangbarer Weg oder trägt die Beteiligung per Mausklick nicht ehr zu einer hysterischen Diskussion bei?
Wir leben in einer beschleunigten Gesellschaft, aus der der Informationsfluss und der Meinungsaustausch über das Internet nicht mehr wegzudenken sind. Trotzdem sollte der direkte Dialog, die direkte Auseinandersetzung unsere hauptsächliche Kommunikationsform im demokratischen Diskurs vor Ort bleiben. Bedenken hätte ich, wenn Entscheidungsprozesse mit Abstimmungen ins Internet verlagert würden.
Erreicht man bei Beteiligungsverfahren den Durchschnitt der Bürgerschaft oder melden sich da nur die immer gleichen Aktivisten und Vertreter partikularer Interessen zu Wort? Ist hier nicht den Populisten Tür und Tor geöffnet?
Trotz breiten Wohlstands haben wir in der Gesellschaft eine deutliche Verunsicherung und damit auch eine Empfänglichkeit für populistische Thesen. Es wäre aber falsch zu behaupten, weil wir mehr Bürgerbeteiligung haben, nehme der Populismus zu. Er findet in diesen Verfahren aber natürlich eine Plattform: gerade wenn frühzeitig und ohne Vorfestlegungen diskutiert wird, sind die Möglichkeiten für Spekulationen und Unterstellungen besonders groß. Die Beteiligung der Schwächeren und der Schutz ihrer Interessen ist eine der ganz großen Herausforderungen von Beteiligungsverfahren.
Von Bürgern kommt häufig die Klage, man werde zwar angehört, danach würden Politik und Verwaltung doch machen, was sie wollen.
Diejenigen, die sich ernsthaft auf einen Beteiligungsprozess einlassen, schätzen realistisch ein, dass ihre Rolle die der Politikberatung ist.Verantwortung und Entscheidung bleiben bei den gewählten politischen Gremien. Durch Ideen und Vorschläge aus der Bürgerschaft bekommen geplante Vorhaben mehr Qualität, auch entstehen Projekte sozusagen in Ko-Produktion. Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht. Frustriert ist nur, wer glaubt, in einem solchen Verfahren müsse sich unbedingt seine Sicht der Dinge durchsetzen.
Brauchen wir zusätzliche Instrumente, um Bürgerbeteiligung zu optimieren?
Gegenüber neuen gesetzlichen Normierungen bin ich skeptisch. Jede konkrete Fragestellung verlangt spezielle Formen der Beteiligung. Dazu haben wir ein breites Instrumentarium. Wir benötigen aber mehr Klarheit und eine realistische Einschätzung, was Bürgerbeteiligungsverfahren leisten können. Verständigung über Regeln ist die große Aufgabe. Alle müssen ihre Rollen kennen. Und nochmal: Wir müssen Wege finden, die schwächeren Gruppen der Gesellschaft mit ihren Interessen mehr einzubeziehen.
Sind die Hürden für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Baden-Württemberg zu hoch?
Beim Bürgerbegehren, dem Verfahren mit dem ein Bürgerentscheid auf den Weg gebracht werden kann, scheinen mir die Hürden angemessen zu sein. Das Quorum für die Wirksamkeit eines Bürgerentscheids liegt jedoch zu hoch.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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