„Der Organismus ist sozusagen in der Situation der Lebensgefahr hängengeblieben“

15.01.2015 
Redaktion
 
Interview: Posttraumatische Belastungsstörung
Fotos: dpa/privat

Im zweiten Teil des Interviews zum Thema Traumafolgestörung spricht Günter Seidler, Leiter der Sektion Psychotraumatologie am Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg, darüber, wie eine Posttraumatische Belastungsstörung ensteht und wie man sie behandelt.

Staatsanzeiger.de: Professor Seidler, was genau ist eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?

Günter H. Seidler: Es werden drei Symptom-Gruppen unterschieden. Die erste Symptom-Gruppe sind Intrusionen. Das sind Erinnerungsbruchstücke an die traumatische Situation. Das können Bilder sein, das können Geräusche sein, das können Gerüche sein, die sich dann allesamt bruchstückhaft aufdrängen - ausgelöst durch einen Ähnlichkeitsreiz in der Außenwelt. Zum Beispiel: Wenn jemand einen Autounfall hinter sich hat und er hört später das Splittern von Glas, kann es sein, dass die ganze Szene optisch wieder vor ihm auftaucht. Derjenige ist dann wieder in der Situation drin. Das ist nicht eine Erinnerung im Sinne „Ach ja, das ist ja so wie damals“, sondern jemand hat die ganze Geschichte wieder vor Augen oder in seinem Erleben. Zweite Symptom-Gruppe: Vermeidungsverhalten, nach innen oder außen gerichtet. Nach außen gerichtet würde bedeuten, jemand will nicht darüber sprechen, jemand geht nicht mehr durch den dunklen Park oder fährt nicht mehr Bahn oder Auto. Vermeidungsverhalten nach innen ist ein bisschen schwieriger. Alles was mit Gefühlen oder Lebendigkeit  zu tun hat, wird sozusagen abgeschaltet. Wenn man Freude erleben würde, etwa sexuelle Vorfreude, würde man wieder in diesen falschen Film geraten.

Was bedeutet das für die Betroffenen?

Die Menschen beschreiben sich dann folgendermaßen: Es ist so als ob ich nur noch wie ein Computer funktioniere, ich erlebe alles wie im Traum, es kommt mir alles so unwirklich vor. In der Zeitung steht dann: Der Lokführer steht unter Schock. Schock ist das Alltagswort dafür, wenn jemand sozusagen nicht ganz da ist.

Und die dritte Gruppe?

Die dritte Symptom-Gruppe überschreibt man mit Übererregung. Der Organismus ist sozusagen in der lebensgefährlichen Situation hängengeblieben, die Betroffenen können nicht einschlafen, nicht durchschlafen, sind schreckhaft, leicht reizbar, reagieren schnell mit Wut, haben Konzentrationsstörungen und sind sozusagen dauernd auf dem Sprung, auf der Hut, dass wieder etwas Schlimmes passieren könnte. Bestimmte Kreislaufparameter sind verändert, zum Beispiel sind Blutdruck und Puls meist dauerhaft erhöht.

Wie kommt es zu deiner PTBS?

Man geht davon aus, dass der Organismus in einer lebensgefährlichen Situation bei der Gedächtnisbildung anders reagiert als in anderen Situationen. Der Organismus wird sozusagen auf Schnelligkeit umgestellt, auf Kampf oder Flucht. Das geschieht dadurch, dass es zu einer schwallartigen und später kaskadenartigen Ausschüttung von Stresshormonen – im Wesentlichen Kortisol und Adrenalin – kommt. Das Kortisol hat Auswirkungen auf bestimmte Gehirnteile. Auf den Hippocampus. Dieser macht üblicherweise das, was moderne Digitalkameras auch machen, sie speichern nicht nur die Bilddatei ab, sondern auch Datum und Ort. Das macht der Hippocampus normalerweise auch. Alles was abgespeichert wird, bekommt einen Orts- und einen Zeitstempel. Die Fähigkeit zu Kontextualisieren wird durch das Kortisol ausgeschaltet. Mit der Folge, dass sozusagen alles überhastet abgespeichert wird - ohne das man weiß, wann und wo das war.

Was bedeutet das?

Die Erinnerungsbruchstücke geistern sozusagen im Kopf umher und immer wenn es einen Ähnlichkeitsreiz gibt, gibt es keine Erinnerung im Sinne von das war damals und dort, sondern das ist unmittelbar und gegenwärtig wieder vorhanden. Darüber hinaus bewirkt das Kortisol auch, dass nicht eine Gesamtgestalt von dem zu Erinnernden abgelegt wird, also mit Wort, Sprache und Gefühlen. Sondern das wird sinneskanalspezifisch gespeichert. Alles was gerochen wird kommt ins olfaktorische Gedächtnis, alles was gesehen wird ins visuelle und es wird nicht an Sprache gebunden. Das hat die Konsequenz, dass wenn jemand später von etwas erzählen soll - ob das eine vergewaltigte Frau vor Gericht ist oder ein Polizist, der in eine Schießerei geraten ist - die Person zwar anfängt zu erzählen,  dann aber sehr schnell wieder aufhört.

Können Sie nicht darüber sprechen?

Früher dachte man, dass sie nicht darüber reden wollen, weil es zu peinlich oder beängstigend ist. Heute weiß man, sie können nicht darüber reden, weil das Erlebte nie mit Sprache verknüpft wurde. Sie erleben also wieder die physiologischen Reaktionen, fangen an zu stottern oder werden weiß oder rot, kollabieren oder transpirieren, aber sie können keinen sprachgebundenen Bericht über das Erlebte ablegen. 

Gehen einer PTBS andere traumatische Erlebnisse voraus?

Eine Traumasituation ist definiert als lebensgefährliche Situation. Knapp 50 Prozent aller Menschen, die in eine solche lebensgefährliche Situation geraten, entwickeln später eine Traumafolgestörung. Da wollte man natürlich gerne wissen, bei wem ist denn das der Fall. Wenn wir das wüssten, könnte man sagen – das könnte auch der Polizeibeamte bei der Anzeigenerstattung sagen – sie sind besonders gefährdet. Deshalb wurde dazu geforscht. Es gibt verschiedene Prädiktoren. Drei sind besonders wichtig. Das eine ist das Geschlecht. Frauen haben eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit wie Männer, nach demselben Ereignis, eine Traumafolgestörung zu entwickeln. Das gilt auch dann, wenn man geschlechtstypische Traumatisierungen raus rechnet: Frauen werden häufiger vergewaltigt als Männer.

Woran liegt das?

Das wird sehr kontrovers diskutiert. Die schnelle Antwort ist immer: Wahrscheinlich spielen biologische Faktoren eine Rolle. Ich persönlich habe eine andere Meinung dazu. Man weiß, dass es im Rahmen von Kriegen viele Vergewaltigungen gibt. Was kaum bekannt ist, ist dass es nach Naturkatastrophen für Hilfsorganisationen ein größeres Problem ist, die Vergewaltigungen in den Griff zu bekommen, als das Hungerproblem oder Wasser zur Verfügung zu stellen. Neun Monate nach dem Erdbeben in Haiti gab es einen Geburtenpeek. Ich bin der Meinung, Potenz ist das beste Antidot gegen Impotenz. Eine Naturkatastrophe ist ein Entmächtigungserlebnis. Man hat keine Kontrolle mehr. Ich glaube, einer der Gründe, dass Frauen krank werden, liegt darin, dass Männer andere Möglichkeiten nutzen, mit diesen Erlebnissen fertig zu werden, nämlich indem sie sich über noch Schwächere hermachen.

Welche Prädiktoren gibt es noch?

Zweiter Prädiktor: Vortraumatisierungen. Es gibt bestimmte Berufsgruppen – Feuerwehr, Polizei, Notarzt, Rettungssanitäter, THW, Lokführer und Soldaten – in denen die Wahrscheinlichkeit, Gewaltopfer zu werden, höher ist. Die meisten Polizeibeamten haben natürliche im Laufe ihres Lebens ein schlimmes Ereignis. Vielleicht geht das einmal gut. Kommt dann aber noch ein solches Erlebnis, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie eine Störung entwickeln, als beim ersten Mal. Und so geht das eben weiter. Der dritte Prädiktor ist der Umgang mit der geschädigten Person nach dem Ereignis. Das spielt gerade auch bei Polizeibeamten eine wichtige Rolle. Üblicherweise werden Menschen nach einem Gewaltereignis nicht besonders freundlich behandelt. Dass das ein Prädiktor ist weiß man seit dem Vietnam-Krieg. Da konnte man zeigen, dass die Soldaten, mit denen etwas behutsamer umgegangen wurde, eine geringere Wahrscheinlichkeit hatten, eine Störung zu entwickeln, als die, die Vorwürfe zu hören bekamen  oder marginalisiert wurden. Das ist bei Vergewaltigungsopfern der Fall, aber auch bei Polizisten und Feuerwehrleuten. Damit geht man von Dienststelle zu Dienststelle anders um. In bestimmten Dienststellen gibt es eine gute Kultur, damit umzugehen, in anderen heißt es, reiß dich zusammen oder du hast den falschen Beruf. Dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie eine Störung entwickeln.

Und wie stehen die Chancen auf Heilung?

Die Chancen sind, wenn die Behandlung früh genug anfängt, nicht schlecht. Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Es gibt eine Therapiemethode, die heiß EMDR. Das ist die Abkürzung für „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“, also Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederaufarbeitung-Therapie. Das ist ein Therapieverfahren, das seit einigen Wochen auch Kassenleistung ist. Wir haben uns in Heidelberg stark dafür eingesetzt, dass diese Therapie als wissenschaftlich begründete Methode zur Behandlung der PTBS anerkannt wird.

Wie funktioniert die Methode?

Bei EMDR werden durch rhythmische Reize aus der Körperperipherie – alles unterhalb des Halses, Verarbeitungsprozesse im Gehirn  angestoßen. Die Gründe dafür kennen wir nicht. Diese Sitzungen sind meistens ziemlich laut, die Betroffenen weinen, schreien oder japsen. Dieser Affekt, diese Gefühlsüberflutung aus der Situation, die damals nicht erlebt werden konnte, weil das mit Lebensgefahr verbunden gewesen wäre, wird sozusagen abgeführt und es finden neue Verknüpfungen statt, die damals aufgrund der Wirkung der Hormone nicht stattfanden. Das ist eine sehr erfolgreiche Methode. Auch die Bundeswehr wendet sie bei Soldaten an, die aus Afghanistan zurückkommen.


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