Wie eine Gemeinschaftsschule funktioniert

20.04.2011 
Redaktion
 

Stuttgart. Grün-Rot will in Baden-Württemberg, einer der letzten Bastionen des dreigliedrigen Schulsystems, die Gemeinschaftsschule einführen. Zwar gibt es im Südwesten nur drei staatliche Gesamtschulen, doch das lange gemeinsame Lernen hat in Privatschulen fast hundertjährige Tradition. Die Landeshauptstadt Stuttgart kann sogar fast als die Wiege der Gemeinschaftsschule gelten: Denn dort öffnete 1919 die weltweit erste Waldorfschule ihre Pforten.

Die schulpolitischen Vorstellungen der künftigen Koalition werfen bei Eltern und Schülern im Südwesten aber viele Fragen auf.

 

Sitzen in der Gemeinschaftsschule alle Schüler in einer Klasse?

Die sogenannte Binnendifferenzierung ersetzt in der Gemeinschaftsschule die Unterscheidung in Schularten. In der Gemeinschaftsschule sind Kinder in einer Klasse zusammengefasst, die im dreigliedrigen Schulsystem auf Haupt-, Realschule und Gymnasium verteilt worden wären. Dadurch entstehen sehr heterogene Klassen. Christian Schad, Landesgeschäftsführer der Arbeitgemeinschaft freier Waldorfschulen, sagt: «Man hat alle - vom ganz, ganz schwachen Hauptschüler bis zum potenziellen Spitzenabiturienten.» Allerdings werden die Klassen in den Waldorfschulen für die Sprachen zweigeteilt, für das Werken sogar gedrittelt. Auch in der Mannheimer Gesamtschule gibt es für die Kernfächer Deutsch, Mathe, Englisch ein Kurssystem, in dem die Kinder in A-, B- und C-Kursen lernen. Allerdings eignet sich dieses System nicht für kleine Schulen.

Wie lange lernen die Kinder zusammen?

In den Waldorfschulen sind die Kinder, die das Abitur ablegen, bis zur 13. Klasse zusammen. Es gibt aber auch Gemeinschaftsschulen, die sich an die vierjährige Grundschule anschließen und in denen die jungen Menschen dann bis zur Mittleren Reife sechs Jahre oder bis zum Abitur acht oder neun Jahre gemeinsam lernen. Es ist nach den ersten Äußerungen der künftigen Koalition nicht davon auszugehen, dass den Gemeinschaftsschulen vorgeschrieben wird, in welchem Zeitraum sie zum Abitur führen. Beim Tübinger Schulversuch „Erweiterte Kooperation“ an der Geschwister-Scholl-Schule können die Kinder, die in Klasse sechs mit Französisch beginnen, nach der Mittleren Reife in drei weiteren Jahren die Reifeprüfung am benachbarten achtjährigen Gymnasium ablegen. Dafür wiederholen sie die zehnte Klasse im Gymnasium.

 

Wie wird der Lehrer mit der Spannbreite der Begabungen gerecht?

Viele Eltern befürchten, dass ihre Kinder nicht genug gefördert werden. Doch das Gegenteil ist das Ziel der Gemeinschaftsschule; ihre Befürworter versprechen sich mehr individuelle Förderung. Die stärkeren Schüler werden vom Lehrer mit Sonderaufgaben betraut, sie werden motiviert, an Wettbewerben oder außerunterrichtlichen Angeboten teilzunehmen, erläutert Schad. Andere Beispiele für Differenzierung sind unterschiedlich schwere Klassenarbeiten oder Themen, die von den Schülern in unterschiedlicher Tiefe bearbeitet werden. In den Erläuterungen zur Tübinger Gemeinschaftsschule heißt es, dass leistungsstärkere Kinder ihren Wissens- und Kompetenzstand durch die Unterstützung von Schwächeren in Form des «Lehrens» festigen und vertiefen.

Welche Art des Lernens befördern die Gemeinschaftsschulen?

Zwar befolgen die Waldorflehrer einen vom Kultusministerium genehmigten Lehrplan, doch dieser lässt mehr Spielraum, auf die Schüler einzugehen. „Das A und O ist, von standardisierten Vorgaben wegzukommen“, erläutert Schad. In den Hauptfächern verzichtet man deshalb auf Lehrbücher und lässt die Waldorfschüler selbst sogenannte Epochenhefte schreiben, mit denen sie sich Stoff erarbeiten. Selbstständiges Lernen statt Frontalunterricht mit gleichen Lernschritten für alle ist laut Bernd Dieng, Mitinitiator eines Modellvorhabens für das gemeinsame Lernen in Ravensburg, der Schlüssel. Er schätzt, dass der Anteil des Frontalunterrichts von derzeit 70 bis 80 Prozent an konventionellen Schulen auf unter 50 Prozent sinkt. Der Lehrer wird zum „Lernbegleiter“.

Wie werden die Leistungen bewertet?

In den Waldorfschulen gibt es keine Noten, sondern Beurteilungen. Das Wichtige ist dabei, dass die Leistungen der Schüler an deren Möglichkeiten gemessen werden. Wenn etwa eine Aufgabe zu Goethes Faust gestellt wird, wird von einem Schüler auf Realschulniveau eine Inhaltsangabe und von einem mit Gymnasialniveau eine Textanalyse und Interpretation erwartet. „Wir bewerten den Weg zur Leistung, das Bemühen, die Disziplin, das Engagement“, erläutert Schad. In den Beurteilungen erfahren die Schüler, ob sie die Erwartungen erfüllt haben und wo sie sich verbessern können.

Wie verändert das gemeinsame Lernen die Lehrerarbeit?

„Für den Lehrer ist die Gemeinschaftsschule eine pädagogische Herausforderung, weil er jedem Kind gerecht werden soll“, betont Schad. Es gelte, bei jedem einzelnen zu erkennen, wo er steht und zu welchem Ziel er geführt werden kann. Nach Schads Worten sind im gegliederten Schulsystem die vorgegebenen Ziele viel weniger individuell. Nach der Überzeugung von Lehrerausbilder Dieng schalten die Lehrer meist erst den Schalter im Kopf in Richtung individuelle Förderung um, wenn sie keine Möglichkeit haben, den Schüler in die nächstuntere Klasse oder sogar in eine andere Schule zu entlassen. „Insofern hängen Struktur und Lehr- und Lernkultur zusammen.“ Noten und Sitzenbleiben sind zumindest für die Waldorfschüler Fremdwörter.

Überfordert das den Lehrer nicht?

Nach den Worten von Dieng kann der Lehrer in der Gemeinschaftsschule nicht mehr Einzelkämpfer sein; er und seine Kollegen stellen sich künftig gegenseitig Material zur Verfügung. In Schweizer Gemeinschaftsschulen sei dieses per Computer allen Päddagogen zugänglich. „Das entlastet enorm.“

Welche Vorteile hat die Gemeinschaftsschule für Sozialkompetenzen?

Nach Überzeugung von Dieng stärkt sie den Zusammenhalt in der Gesellschaft und beugt dem Verlust von zwischenmenschlicher Solidarität vor. Die schwächeren Schüler haben Lern- und Verhaltensvorbilder. «Im gegliederten Schulsystem fehlen den schwächsten Schülern die Korrektive», ist er überzeugt. Die Schwächeren werden von ihren Klassenkameraden mitgezogen und motiviert; die kognitiv begabten Schüler können im Gegenzug von ihren eher handwerklich geschickten Mitschülern lernen, weiß Schad aus Erfahrung.

Muss es andere Bildungspläne geben?

Ein neuer Bildungsplan müsste erstellt werden. Als ein Element könnte von den bestehenden Plänen übernommen werden, dass weniger die Inhalte, die am Ende eines Schuljahres vermittelt sein müssen, als die zu erwerbenden Kompetenzen festgeschrieben werden. Nach den Worten des SPD-Bildungspolitikers Frank Mentrup liegt die Kunst darin, „ein Repertoire von Lernangeboten zu erstellen, das sicherstellt, dass sich ein Kind die Fächer bis zum gymnasialen Niveau erarbeiten kann“.


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