„Die Kunst der Politik besteht in einer Abwägung der Vielfalt“

15.11.2010 
Redaktion
 
Interview mit Annette Schavan über Politik, Gesellschaft, Gott und die Welt

Stuttgart. Annette Schavan, geboren 1955, hat Erziehungswissenschaften, Philosophie und  Theologie studiert. Zehn Jahre lang, bis zum Jahr 2005, war sie Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg, heute ist sie Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU. Nun hat sie zusammen mit dem Berliner Journalisten Volker Resing ein Buch im Interview-Stil verfasst mit dem Titel „Gott ist größer als wir glauben“. Am Freitagabend war das Duo auf Einladung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, des Katholischen Bildungswerks Stuttgart und des Hauses der Katholischen Kirche zu Gast in Stuttgart. Unsere Mitarbeiterin Eva Maria Schlosser sprach mit Schavan über Politiker, Gesellschaft und die Zeichen der Zeit.

Staatsanzeiger: Sie sind schon früh in die Politik. Nun sind Sie Wissenschaftsministerin. Wird man als Politikerin ein anderer Mensch?

Annette Schavan: Man macht Erfahrungen, die einen vermutlich verändern ...

Das machen andere Menschen auch. Wo liegt der Unterschied?

Ich bin zwar einerseits früh in der Kommunalpolitik gewesen, habe aber ja auch 15 normale Berufsjahre gehabt. Das heißt, ich habe den Vergleich. Viel arbeiten tun auch andere, genauso Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen – dass alles gibt es in beiden Bereichen. Der große Unterschied ist: Was Politiker tun, geschieht unter den Augen der Öffentlichkeit. So ist die wichtigste Erfahrung eines Politikers, zu verstehen  wie die Öffentlichkeit tickt, wie sie sich verändert.

Tun sie das denn? Viele Menschen empfinden Politiker eher als abgehoben, ohne Bezug zur Realität auf der Straße beziehungsweise Gesellschaft.

Ich glaube, dass die Art, wie Politiker auf Öffentlichkeit reagieren, so unterschiedlich ist, wie die Mentalitäten und die Typen der Politiker. Ich kann von mir sagen, dass ich immer sehr neugierig auf das Ticken einer Gesellschaft war. Ich will Veränderungen und neue Zwischentöne wahrnehmen. Ich frage mich auch nach vielen Jahren Ministertätigkeit in Land und Bund: Hörst du noch genug und hörst du noch genug zu? Und wenn ich etwa den Zeitraum 1995 bis heute nehme, hat sich unheimlich viel verändert.

Zu den großen Veränderungen gehören insbesondere die Globalisierung, die Entwicklungen der Neuen Medien und besonders des Internet. Hier hat man gerade in der Politik den Eindruck, diese Entwicklungen wurden verschlafen beziehungsweise ignoriert. Das beste Beispiel ist der 30. September in Stuttgart, als der Polizeieinsatz gegen demonstrierende Stuttgarter, die sich im Park gegen das Projekt Stuttgart 21 versammelt hatten,  eskalierte. Weder Landesregierung noch Polizei hatten damit gerechnet, dass die Menschen diesen Einsatz dokumentieren und sofort ins Netz stellen. Das überrascht und wirkt weltfremd. Wie erklären Sie sich das?

Ja. Das Internet ist eine der großen Veränderungen: Hier finden ganz viele Debatten statt. Wir müssen uns als Politiker fragen, bekommen wir diese genügend mit? Parteien haben eben ihre klassischen Formate. Die Jüngeren sind zwar natürlich längst im Internet und auch die Ministerien sind mit ihren Informationen hier präsent. Aber die Wucht, die da entstehen kann, die Organisation, die da auf kürzestem Wege geschieht, das haben noch nicht alle erkannt.

Sie sind in Karlsruhe beim Bundesparteitag. Was steht da an?

Das ist ganz interessant. Gerade 1995, als ich Kultusministerin von Baden-Württemberg wurde, war auch ein Bundesparteitag in Karlsruhe. Damals lautete das Motto: Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Heute sind wir schon zehn Jahre da und spüren an vielen Stellen, da gibt es eine Weiterentwicklung, die man nicht übersehen darf.

Für einige Entscheidungen in Ihrer Funktion als Wissenschaftsministerin des Bundes mussten Sie bereits viel Kritik einstecken. Und trotzdem kann man ja gerade als Politiker oft nicht so entscheiden, wie man eventuell selber möchte. Kritik lässt sich wahrscheinlich nie vermeiden. Macht das Politiker-Dasein da noch Spaß?

Moderne Gesellschaften sind ganz vielfältig. Die Kunst der Politik besteht eigentlich darin, aus dieser Vielfalt der Interessen, auch der widerstreitenden Interessen, zu einer Abwägung, einem Ausgleich zu kommen. Je mehr verschiedene Positionen es gibt, umso komplizierter wird es. Ich finde es nach wie vor interessant, dies zu tun. Aber zum Politiker-Sein gehört auch, dass man nicht zimperlich ist. Und für seine politische Arbeit nicht die große Anerkennung für die eigene Person erwartet. Es gibt zwar auch Zeiten, da bekommt man diese Anerkennung tatsächlich. Aber es gibt auch den Alltag. Und es gibt schwierige Situationen, wo man vielleicht so entscheidet, dass viele sagen, das finden wir überhaupt nicht gut. Das wird dann auch personifiziert. Das Politiker-Dasein ist somit ein Auf und Ab der Stimmungen, von Anerkennung und Ablehnung. Politik ist etwas für Typen, die ihre persönliche Selbstbestätigung nicht aus der Politik holen müssen.

Hilft also Seelenruhe?

Es ist nicht schlecht in sich zu ruhen. Man muss leidenschaftlich in der Sache sein und wissen, dass viele Entscheidungen, vor allem, wenn es um Veränderung geht, auf Widerstand stoßen, Empörung hervorrufen. Dann darf man weder selbst beleidigt sein, noch arrogant denen gegenüber sein, die sich empören, sondern man muss einen guten Weg finden, in Dialog zu treten und mit Entschiedenheit das vertreten, für das man steht.

Sie sind nicht nur CDU-Mitglied, sondern auch Theologin und überzeugte Katholikin. Auch die Kirche ist derzeit nicht besonders populär. Immer mehr Menschen treten aus. Woran liegt das?

Für Regierungen und Parteien wie für die Kirche gilt: Institutionen sind dazu da, Menschen vom ständigem Entscheiden zu entlasten. Natürlich sind diese auch immer in Gefahr, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen und nicht genug mitzubekommen, was sich tut. Sie müssen sich Fragen stellen wie: Was heißt Entwicklung in dieser Welt des 21. Jahrhunderts für die Übersetzung der Botschaft der Kirche? Was heißt Entwicklung in dieser Zeit für die Weiterentwicklung einer Partei? Da gibt es dann immer besondere Ereignisse, wo diese Fragen gestellt werden. Bei der katholischen Kirche war es das zweite vatikanische Konzil als großes Ereignis der Vergewisserung und Weiterentwicklung. Parteien reflektieren solche Fragen auf den Bundesparteitagen, durch Grundsatzprogramme und ähnlichem. Das ist dann die eine Ebene. Aber je individualisierter Gesellschaften sind, umso mehr wird auch die Beziehung zu Institutionen komplizierter. Ich behaupte, wir Politiker kommen mit unglaublich vielen Menschen zusammen. Und weil ich immer durch konkrete Begegnungen auf den Boden der Tatsachen zurück geführt werde, ist „Abheben“ eher schwierig. Unser Problem ist vielleicht eher, dass wir vor lauter Terminfülle kaum mehr zum Nachdenken kommen. Aber ich fürchte, dieses Problem haben viele Berufsstände.

Sie erzählen in Ihrem Buch, wie wichtig Ihnen das Stundengebet in diesen Zeiten der Schnelligkeit ist. Wachstum, Schnelligkeit und Fortschritt werden fast schon synonym benutzt. Da bleibt oft keine Zeit zum Innehalten, still sein. Brauchen wir nicht gerade in einer Welt des Fortschritts dieses Innehalten und die Stabilität von Tradition, das Lernen aus der Geschichte?

In diesen Beziehungen sind die Balancen entscheidend. Es gehört zur Lebenskunst, auch zur Entwicklung der eigenen Glaubenswege, diese Balancen zu halten. Also Christentum nicht als idealen Rückzugsort, sondern als Balance zwischen Gottsuche, dem Gebet im umfassenden Sinn und der Arbeit, der kritischen Zeitgenossenschaft begreifen, wie das auch beim zweiten Vatikanischen Konzil gesagt wurde. Das gilt auch für den Fortschritt. Blinder Fortschrittsoptimismus bringt nichts. Aber ich bin sehr für eine Bereitschaft zum Fortschritt, denn ich muss wissen, dass ich heute Weichen für zukünftige Generationen stelle. Im Begriff Nachhaltigkeit kommt ja ganz viel zum Ausdruck von Balance: Das bedeutet, jetzt handeln, aber so, dass über eine Legislatur hinaus sich etwas Positives entwickeln kann.

Aber genau das wollen die Stuttgart 21-Gegner ja auch. Sie denken, dass dieses Mega-Projekt weder zum Fortschritt beiträgt noch etwas Positives für kommende Generationen ist ...

Natürlich muss ich mir auch immer überlegen, wie ich etwas, was ich vorhabe, kommuniziere. Aber wir dürfen nicht denken, wir könnten Politik machen, wenn wir die jeweiligen Interessen wahrnehmen. Alles hat seine Zeit. Man muss doch sagen, hier in Stuttgart und Region lebt man gut.

Die Frage ist doch auch, was begreift man unter Fortschritt?

Ich kann das schön an einem Beispiel unserer Forschungsprogramme erläutern. Einige dieser Programme haben mit technischer Entwicklung zu tun, mit Nanotechnologie, Informations- und Biotechnologie und so weiter. Aber wir kümmern uns da nicht mehr nur um die technologische Entwicklung, welche ja immer in kulturellen Kontexten, in konkreten Gesellschaften geschieht, sondern auch mit den damit verbundenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragen, mit den ethischen Standards. Also Fortschritt und Wohlstand nicht nur bezogen auf technologische Perfektion und ökonomischen Wohlstand, sondern auch auf einen intellektuellen, sozialen und kulturellen Wohlstand und Fortschritt, der sich mit den großen Aufgaben der Menschheit beschäftigt.

Die da wären?

Der Umbau der Energieversorgung, um den Klimawandel positiv zu beeinflussen, Forschung für Gesundheit, Mobilität, Sicherheit, Kommunikation. Das sind die fünf großen Bereiche mit den zentralen Fragen.

Was ist mit Ernährung?

Gerade diese Woche haben wir im Kabinett die „Nationale Forschungsstrategie Bioökonomie 2030" verabschiedet. Hier sollen Wege zu einer biobasierten Wirtschaft erforscht werden. Da wird dann zum Beispiel die Frage bearbeitet, was zu tun ist, dass es nicht bei der „Tank-Teller-Konkurrenz“ bleibt, das heißt beispielsweise, wie wir es erreichen, das Essbares nicht als Energie genutzt wird. Dass wir dahin wollen, hat mit ethischen Grundentscheidungen zu tun.

Und mit Verantwortung und Respekt, auch gegenüber den Menschen anderer Länder und anderer Kontinente. Ernährung, Bevölkerungswachstum und Abfallwirtschaft sind ebenfalls Themen, die uns in Zukunft alle beschäftigen müssten. Hier wäre doch auch die Kirche gefragt?

Die Kirche ist noch längst nicht das, was sie sein kann.

 

Annette Schavan: Gott ist größer, als wir glauben. Visionen für Kirche und Welt. 112 Seiten, 12,5 x 19,5 cm, gebunden, mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-7462-2909-6; 9,90 Euro.


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