Stuttgart/Berlin. Clemens Binninger ist CDU-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss, der vergangene Woche seine letzte öffentliche Sitzung hatte. Zu dessen Ergebnissen, Konsequenzen und weiterer Arbeit äußerte sich Binninger im Gespräch mit Christoph Müller ebenso wie zum NSU-Prozess in München und dem Rechtsextremismus in Baden-Württemberg.
Staatsanzeiger: Vergangene Woche hat der Ausschuss-Vorsitzende, Ihr SPD-Kollege Sebastian Edathy von „strukturellem Versagen der Sicherheitsbehörden“ gesprochen, der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland von „Totalversagen in allen Fragen“. Wie lautet Ihre Einschätzung?
Clemens Binninger: Es gab schwere Versäumnisse, gravierende Fehleinschätzungen, unzureichenden Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden und eine zu frühe und falsche Festlegung auf eine Ermittlungsrichtung. Das ist alles kritikwürdig und war, wie es der Präsident des Verfassungsschutzes Fromm sagte, eine Niederlage für die Sicherheitsbehörden. Und auch eine Niederlage für unsere Gesellschaft, weil alle anderen, die mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus zu tun haben, etwa wir Innenpolitiker aber auch die Medien, ebenfalls die Verbrechensserie nicht als das erkannt haben, was sie war, nämlich Rechtsterrorismus. Trotz aller berechtigter Kritik darf man aber nicht pauschal urteilen und den Eindruck erwecken, alle Sicherheitsbehörden sind inkompetent. Das wäre genauso falsch.
Ist Ihr Weltbild durch den Untersuchungsausschuss ins Wanken geraten?
Ich habe schon so viel an Fehlern sehen müssen, dass es mich erschüttert hat, keine Frage. Sowohl bei den Mordermittlungen, bei der Fahndung nach dem Trio in Thüringen und Sachsen Ende der 1990er-Jahre oder was die schlechte Zusammenarbeit von Behörden angeht. In diese Reihe gehört auch die manchmal rechtsstaatlich nicht mehr begründbare Überhöhung des Quellenschutzes und die V-Mann-Problematik. Da wurde schon viel Vertrauen beschädigt, auch bei mir. Deshalb benennen wir sehr präzise was falsch lief, denn nur so entsteht ein Veränderungsdruck, der sicherstellt, dass die notwendigen Konsequenzen auch umgesetzt werden und sich so etwas nicht mehr wiederholt.
Wie kann verlorenes Vertrauen wiederhergestellt werden?
Ein Stück weit war es auch unsere Aufgabe, dass die Angehörigen und die überlebenden Opfer immer sicher sein konnten, wir gehen im Ausschuss jeder Frage und jedem Vorwurf nach. Nichts blieb unausgesprochen. Ansonsten ist es notwendig, dass man dem Thema gewaltbereiter Rechtsextremismus einen höheren Stellenwert einräumt als in der Vergangenheit. Und die Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei und auch der Justiz muss spürbar und erkennbar verbessert werden. Auch die Staatsanwaltschaft hat, bis hin zur Generalbundesanwaltschaft, Fehler gemacht. In der gesellschaftlichen Debatte brauchen wir eine stärkere Sensibilisierung für diese Gefahr für unsere Demokratie und einen offensiveren Umgang damit.
Wird der NSU Prozess in München dazu beitragen können. Oder ist er schon jetzt mit Erwartungen überfrachtet?
Die Gefahr sehe ich in der Tat, dass von der Verhandlung mehr erwartet wird, als sie leisten kann. Die Arbeit der Behörden zu untersuchen, ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern war unsere Aufgabe. Auch eventuell weiterführende oder neue Ermittlungsansätze werden in der Verhandlung ebenfalls nur am Rand eine Rolle spielen können. Wenn es gelingt, den fünf Angeklagten die Vorwürfe so nachzuweisen, dass es für eine Verurteilung ausreicht, ist einiges erreicht. Das wird schon schwierig genug werden.
Es gab Verbindungen der NSU nach Baden-Württemberg, der letzte Mord des Trios geschah im Südwesten. Wie schätzen Sie die rechtsextremistische Gefahr im Land ein?
Wir müssen uns davor hüten, den Rechtsextremismus nur mit den neuen Ländern in Verbindung zu bringen. Es gibt eine Reihe von Schwerpunkten in und um Ballungsräume, quer verteilt über Deutschland. Gleichwohl haben wir hier nicht die Dimension des Rechtsextremismus wie in anderen Bundesländern. Es gilt sicherzustellen, dass das so bleibt: Mit einer hohen Sensibilität, einer Verfassungsschutzbehörde, die ihrer Frühwarnfunktion gerecht wird, etwas mehr als in der Vergangenheit, und einer Polizei, die bei Gesetzesverstößen sehr konsequent einschreitet.
Baden-Württemberg gilt ihrem grünen Obmann-Kollegen als weißester Fleck bei den NSU-Straftaten. Das muss Sie als ehemaligen Polizisten und Bundestagsabgeordneten aus der Region besonders schmerzen …
Es stimmt schon: Heilbronn ist nach wie vor der Fall mit den meisten offenen Fragen. Der Mord an Michèle Kiesewetter passt von den ganzen Umständen her nicht in die Serie und vieles wissen wir nicht. Der Fall hat eine solche Summe von Merkwürdigkeiten, dass ich die Einschätzung des Kollegen schon verstehe. Das aufzuklären ist bislang nicht gelungen und wird, so befürchte ich, auch in nächster Zeit nicht gelingen.
Einen Zusammenhang zwischen dem Ku-Klux-Klan und den Morden des NSU-Trios sehen weder Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall noch Landesverfassungsschutzpräsidentin Beate Bube. Sie auch nicht?
Stand heute: Nein. Wir haben den Fall ja auch intensiv beleuchtet und dazu umfangreich Akten ausgewertet. Nach Bewertung aller uns vorliegenden Akten und den Zeugenbefragungen lässt sich sagen: Es hat außer der personellen Überschneidung, dass ein Mitglied fünf Jahre später in der Einheit von Michèle Kiesewetter ihr Gruppenführer war, keinen Zusammenhang gegeben. Das ist schlimm genug. Aber nach heutigem Stand gibt es keine Bezüge zur Tat.
In Baden-Württemberg ist inzwischen beim LKA eine Ermittlungsgruppe Umfeld eingerichtet worden. Ist das nicht zu wenig und zu spät?
Die Einrichtung dieser Ermittlungsgruppe ist richtig, um die Strukturen aufzuklären, auch um diese ganze Tat herum. Aber das hätte man im Prinzip ein Jahr früher machen müssen.
Hätten Sie in Stuttgart gern einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags gesehen?
Ich habe es mir stets verkniffen, Vorschläge zu machen. Das muss jedes Landesparlament selbst entscheiden, ob neben unserer Arbeit noch so viele Fragen offen sind, was die Arbeit der Sicherheitsbehörden angeht, um das intensiv von einem anderen Ausschuss zu beleuchten. Bayern, Sachsen und Thüringen machen das.
Die überparteiliche Zusammenarbeit im Ausschuss wurde stets gelobt. Wird diese Einmütigkeit auch im Bundestagswahlkampf erhalten bleiben. Immerhin wird der Abschlussbericht wenige Wochen vor dem Wahltermin vorgestellt …
Ich habe da keine Zweifel, das wir diesen überfraktionellen Zusammenhalt im Interesse der Sache beibehalten. Natürlich wird es im Bericht, gerade wenn es um Empfehlungen für die Zukunft geht, Unterschiede geben. Das ist aber völlig in Ordnung. Man kann in diesem Punkt nicht erwarten, dass CDU die gleichen Empfehlungen ausspricht wie die Linke oder die Grünen. Aber was die Feststellung der Tatsachen und auch was die Bewertung der Fehler angeht, die wir im Ausschuss herausgearbeitet haben, erwarte ich, dass wir ein hohes Maß an Gemeinsamkeit auch im Bericht halten werden. Und da wir für alle sichtbar so lange über alle Parteigrenzen zusammengearbeitet haben, ist es nahezu unmöglich, dass jemand meinen könnte, dieses Thema vier Wochen vor der Wahl noch irgendwie zu instrumentalisieren. Das wäre auch ungehörig.
Ein Blick über die Legislaturperiode hinaus: Ihr Ausschuss- und Koalitionskollege Hartfrid Wolff von der FDP fordert einen weiteren Ausschuss zur NSU im nächsten Bundestag: Schließen Sie sich dem an?
Nein, das mache ich nicht. Wir sind von Gesetz wegen gehalten, die Ausschussarbeit zum Ende der Legislaturperiode auch zu Ende zu bringen. Das heißt, wir wussten von Beginn an, dass wir nicht viel Zeit haben: 15 Monate für die reine Beweisaufnahme. Diese Zeit haben wir, glaube ich, sehr gut genutzt. Viel mehr kann man in der kurzen Zeit nicht aufarbeiten. Wir haben alle in Betracht kommenden Länder beackert, alle Tatorte, und sind zu sehr beachtlichen Ergebnissen gekommen. Ob es darüber hinaus Untersuchungsbedarf gibt, möglicherweise auch einen, der sich erst im Verlauf der Gerichtsverhandlung in München ergibt, ist allein eine Entscheidung des neu gewählten Parlaments.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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