Stuttgart. „Nochmals umziehen? Zu anstrengend. Hier kennen mich alle, meine Nachbarn tragen mir die Einkäufe hoch.“ Marliese Müller lebt schon seit dem Jahr 1965 in ihrer Altbauwohnung im Stuttgarter Süden. Wenn sie gehe, dann nur mit den Füßen voraus, scherzt die rüstige 85-Jährige. Umso mehr regte sie auf, was kürzlich Robert Feiger, Bundesvorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) vorschlug: Der Staat solle Senioren in Ballungsräumen eine Umzugsprämie von 5000 Euro bieten, damit sie große Wohnungen für Familien frei machten.
Auch Oma Müller, wie sie genannt wird, lebt allein in fünf Zimmern: „Platz, wenn die Enkelkinder zu Besuch kommen! Obwohl die große Wohnung schon Arbeit macht und nicht altengerecht ist.“ Sie liegt im zweiten Stock, einen Aufzug gibt es nicht. „Trotz allem, woanders kenne ich doch niemand, hier habe ich meine Läden. Einen alten Baum verpflanzt man eben nicht“, sagt die Rentnerin.
Nach dem Mikrozensus des Statistischen Landesamts lebten im Mai 2011 in 995 000 Haushalten im Land, also in 21 Prozent, Senioren. Senioren lebten häufiger in einem Einpersonenhaushalt als Jüngere. Mit 35 Prozent wurden über ein Drittel aller Singlehaushalte von Senioren geführt; bei den 18- bis 64-Jährigen lebten 16 Prozent alleine. Die meisten Seniorenhaushalte – 29 Prozent – gab es im Stadtkreis Baden-Baden. Dort lag der Seniorenanteil an der Bevölkerung mit 27 Prozent weit über dem Landesschnitt von 19 Prozent.
Ähnlich denkt ihre Freundin Ilse, die eine Straße weiter ebenfalls in vier Zimmern wohnt. Die fitte 80-Jährige würde gerne Familien helfen, aber nur umziehen, wenn ein kleineres Apartment ganz nahe ihrer jetzigen Wohnung liege. Nach einer Untersuchung der Generali Versicherung aus dem Jahr 2013 wollen fast 60 Prozent 65- bis 85-Jährigen in den eigenen vier Wänden alt werden und lieber dort Hilfe bekommen. Sogar 90 Prozent der Befragten wünschen sich dies nach der Studie „Pflege 2020“ des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO.
Entsprechend kritisch wird der Vorschlag von IG Bau-Chef Feiger in Kommunen und Verbänden gesehen. Roland Sing, Vorsitzender des Landesseniorenrats, bezeichnet diesen etwa als absolut lebensfremd. „Er hat mit der Lebenswirklichkeit von älteren Menschen nichts zu tun, Eigentümer fallen aus diesem Vorschlag sowieso gleich raus“, betont er. „Jemand verlässt seine Wohnung nur dann, wenn er sie nicht mehr beherrscht oder Barrierefreiheit braucht.“ Beim Leben im vierten Stock ohne Aufzug werde es mitunter kritisch. Es schade unglaublich, ältere Menschen aus ihrer gewohnten Infrastruktur zu reißen. „Außerdem kann man nicht mit Umzugsprämien winken, wenn es keine wirkliche Alternative gibt, denn wir haben doch kaum barrierefreien Wohnraum“, so Sing.
Nach Untersuchungen des Bundesbauministeriums sind etwa ein bis zwei Prozent des Wohnungsbestands altersgerecht. Sing hofft daher, dass der Vorschlag wenigstens eins gebracht hat: Dass endlich vermehrt über das Thema demografischer Wandel und Wohnen diskutiert wird. Man müsse aufklären, was es für Möglichkeiten des Lebens im Alter geben könnte, von betreutem Wohnen bis zum Mehrgenerationenhaus.
Auch beim Städtetag Baden-Württemberg wird betont, dass die Prämie eher kontraproduktiv sei und Verdrängung nach sich ziehen könnte. Schließlich wolle man vielfältige, altersgemischte Quartiere haben. Man müsse älteren Menschen Respekt zollen und sie nicht mit Geld von dort weglocken, wo sie ihr Leben verbracht hätten. „Auch darf die Gesellschaft Senioren gegenüber keinen Druck aufbauen und womöglich im Sinne einer Planwirtschaft vorgeben, wie man im Alter zu leben habe“, sagt Dezernent Gerhard Mauch. „Wir stellen damit die Selbstbestimmung in Frage.“
Bei der Stadt Stuttgart will man die Umzugsprämie nicht kommentieren. Indes definiert Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) „Wohnen im Alter“ als Zukunftsthema im Konzept „Wohnen in Stuttgart“. Dort leben nach Angaben der Stadt 93 Prozent der über 65-Jährigen in ihren eigenen vier Wänden und wollen das auch weiterhin. 51 Prozent davon sind Wohneigentümer. Viele Menschen lebten nach Auszug der Kinder oder Tod des Partners in großen Wohnungen und Häusern weiter – auch wenn der Aufwand, Haushalt und Instandhaltung zu handhaben, immer größer wird, so ein Sprecher. Gleichzeitig seien viele Familien mit Kindern – etwa wohnhaft in einer Drei-Zimmer-Wohnung – auf der Suche nach größerem Wohnraum. „Hier bietet sich die Stadt als Vermittler an, um Tauschwillige und Suchende zusammenzubringen – somit wäre unserer Meinung nach eine Tauschbörse eine praktikable Idee.“
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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