„Die Politik kann es sich nicht mehr erlauben, paternalistisch auf die Bürger herabzublicken"

11.12.2010 
Redaktion
 
Interview

Der Protestforscher Dieter Rucht aus Berlin hat die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 untersucht, deren Teilnehmer befragt und er hat die Schlichtungsgespräche verfolgt. Ein Gespräch über Proteste, über Fehler von Schlichter Heiner Geißler und neue Formen der Bürgerbeteiligung.  

staatsanzeiger.de: Es klingt absurd: Die Stuttgarter haben monatelang gegen einen teuren Bahnhofsneubau demonstriert. Jetzt bekommen sie einen Bahnhof, der noch teurer wird. Hat Heiner Geißler seinen Job als Schlichter gut gemacht hat?

Dieter Rucht: Das hat er durchaus – in einer Hinsicht. Geißler hat erheblich dazu beigetragen, die Lage zu beruhigen. Er hat es geschafft, dass sich alle Parteien an einen Tisch gesetzt und auf Augenhöhe miteinander gesprochen haben. Allerdings tauchten während der Schlichtungsgespräche erhebliche offene Fragen auf, die man in der Kürze der Zeit nicht klären konnte. Leider blieb es so oft bei einer bloßen Gegenüberstellung von Behauptung und Gegenbehauptung.

Hätte Heiner Geißler stärker moderieren müssen?

Er hat es versäumt, seine eigene Rolle vor Aufnahme der ersten Schlichtungsrunde klar zu definieren. Still und heimlich ist er von der Sach- und Fachschlichtung abgerückt. Mit seinem abschließenden Votum hat er sich ohne das explizite Einverständnis der Verhandlungsteilnehmer selbst zum Richter aufgeschwungen. Im Grunde war es eine Schlichtung, die diesen Namen nicht verdient.

Egal, wie man zu Heiner Geißlers Votum steht: Offiziell ist die Schlichtung beendet, doch die Proteste gehen weiter. Sind die aktuellen Demonstrationen gegen das Bahnprojekt überhaupt noch legitim?

Die Proteste der Menschen, die dem Schlichtungsverfahren von Anfang an skeptisch gegenüberstanden, bleiben legitim. Sie haben dem Schlichterspruch nicht zugestimmt. Insofern ist für diese Gruppe keine Bindungswirkung entstanden. Bei denen, die an der Schlichtung beteiligt waren, ist die Situation anders. Wenn man das Ergebnis der Schlichtung akzeptiert hat, ist es schizophren, anschließend munter weiterzudemonstrieren.

In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, dass es sich bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 um eine neue Qualität des politischen Protests handelt. Können Sie das bestätigen?

Dass die Proteste im Wesentlichen vom Typus der vielzitierten Dame mit Perlenkette getragen wurden, ist eine mediale Fehlwahrnehmung. Eine von unserer Forschungsgruppe durchgeführte Befragung unter Stuttgart-21-Gegnern hat gezeigt, dass die Demonstranten politisch überwiegend der linken Mitte zuzuordnen sind. Die Proteste reichen in das bürgerliche Lager hinein. Dieses darf man allerdings nicht mit den Konservativen oder der Anhängerschaft der CDU gleichsetzen.

Warum kamen die Proteste gegen Stuttgart 21 so spät? Die Pläne der Bahn waren ja seit langem bekannt.

Entgegen der herrschenden Wahrnehmung hat die Durchsetzung dieses Großprojekts nicht wegen der aufwendigen Planungsverfahren so lange gedauert. Die politischen Entscheidungsträger haben Stuttgart 21 immer wieder im Sinne eines Stop-and-go-Verfahrens betrieben. Viele Menschen sind erst aufgewacht, als sie die Folgen von Stuttgart 21 bildlich vor Augen hatten – als die ersten Bäume umgesägt wurden und die Bagger anrückten.

Mitunter hatte man den Eindruck, als ob es einigen Demonstranten nicht allein um den Erhalt des Bahnhofs ging. War Politikverdrossenheit auch ein Motiv, auf die Straße zu gehen?

Nicht Politikverdrossenheit, sondern Parteienverdrossenheit. In der Bürgerschaft hatte sich eine Menge Unmut über das Verhalten der "politischen Klasse" aufgestaut. Das Vertrauen in die Weisheit von Politikern und Experten ist nicht zuletzt infolge der Finanzkrise erheblich gesunken. Zudem sind viele Bürger unzufrieden mit der schwarz-gelben Koalition. Die Proteste gegen Stuttgart 21 haben auch eine kulturelle Dimension. Im Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis von Fortschritt und Tradition. Die Stuttgart-21-Gegner wenden sich gegen eine Vorstellung von Modernität, nach der alles immer schöner und schneller werden muss.

Die etablierte Politik warnt nicht zuletzt vor diesem Hintergrund vor der Etablierung einer „Dagegen-Republik“. Halten Sie den fortschrittsfeindlichen Bürger, der demokratisch beschlossene Entscheidungen aushebelt, für eine reale Gefahr?

Ich glaube nicht, dass der technologische Fortschritt oder das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland davon abhängt, ob der Bahnhof in Stuttgart ein Kopf- oder ein Durchgangsbahnhof ist. Die Politik wäre gut beraten, frühzeitiger mit den Bürgern über die Planungen zu sprechen, die Nachteile von bestimmten Projekten offenzulegen und von Anfang an über Alternativen nachzudenken.

Glauben Sie, dass die S-21-Schlichtung den Ablauf kommender Großprojekte verändern wird?

Stuttgart 21 wird Diskussionen darüber in Gang setzen, ob der Ablauf solcher Projekte nicht anders gestaltet werden muss. Der Umgang mit der Bürgerschaft wird sich ändern. Die Politik kann es sich nicht mehr erlauben, paternalistisch auf die Bürger herabzublicken. Die Menschen wollen von den Politikern ernstgenommen und in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Aber sind Laien überhaupt in der Lage, bei einem komplexen Großprojekt wie Stuttgart 21 fundierte Entscheidungen zu treffen?

Das kann nur funktionieren, wenn Richtungsfragen und Detailfragen voneinander getrennt werden. Es würde die Bürger überfordern, sich mit Bremskurven und Durchrutschoptionen beschäftigen zu müssen. Auch Heiner Geißler hat es aus meiner Sicht nicht geschafft, sich auf die zentralen Fragen zu konzentrieren. Stattdessen hat man sich während der Schlichtungsgespräche oft in Nebensächlichkeiten verheddert. Selbstverständlich sollten auch diese Informationen allen interessierten Bürgern zur Verfügung gestellt werden. Aber beide Arten von Informationen gleichrangig zu präsentieren und zu diskutieren, halte ich für falsch.

Selbst wenn man sich auf die wesentlichen Aspekte konzentriert, dürfte eine verstärkte Einbeziehung der Bürger Großprojekte verzögern. Wie stehen Sie zu dieser Befürchtung?

Das ist der Preis, der für manche dieser Projekte zu zahlen sein wird. Eine Beteiligung der Bürger kann aber auch positive Folgen haben: Verfahren können sich sogar verkürzen, wenn frühzeitig eine Richtungsentscheidung getroffen wird, die nicht wie im Fall von Stuttgart 21 zu einem späten Zeitpunkt wieder hinterfragt und angezweifelt wird.

Warum hat die Politik dann so große Angst vor mehr einer Ausweitung direktdemokratischer Elemente?

Zum einen glauben viele Politiker, dass sie das Allgemeininteresse vor Augen haben, während die Bürgerinteressen immer noch tendenziell als borniert, partikular und egoistisch wahrgenommen werden. Zum anderen fragen sich viele Parlamentarier und Regierungen, wozu sie überhaupt noch da sind, wenn ihnen die Entscheidungsbefugnis aus der Hand genommen und dem Volk überantwortet wird.  Diese Angst ist unbegründet. Von einigen wenigen hochgradig konfliktreichen Ausnahmefällen abgesehen, in denen ein Bürgerentscheid oder Volksentscheid zur Geltung kommen kann, bleibt die Entscheidungskompetenz bei den Parlamenten


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