Verein zieht positives Fazit zur Ausweitung der Bürgerbeteiligung

23.11.2018 
Von: ru
 
Redaktion
 

Foto: dpa

Wie wirkt sich die Ausweitung der Bürgerbeteiligung auf die Kommunen aus? Mit der Reform vor rund drei Jahren hat das Land die Hürden für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gesenkt. Kritik äußerten der Städtetag und der Gemeindetag vor und nach der Änderung: Die Entscheide würden wichtige Bauprojekte verhindern. Wunder kann diese Kritik nicht verstehen, erklärt er im Interview. Er hat für den Verein „Mehr Demokratie“ viele Abstimmungen mit Bürgerinitiativen und Verwaltungen begleitet. Sein Verein hat am Freitag die Daten zu Bürgerbegehren und Entscheiden seit der Reform 2015 vorgestellt.


Laut dieser Erhebung fanden von April 2016 bis heute, 66 Bürgerentscheide statt. Im Schnitt gingen 53 Prozent der Stimmberechtigten zu den Abstimmungen. Nur in Kommunen mit mehr als 12 000 Einwohnern scheiterten 35 Prozent aller Entscheide an dem neuen Quorum von 20 Prozent. In kleineren Gemeinden stellte das Quorum keine Hürde dar. In 71 Prozent der Fälle gewann die Bürgerinitiative, die das Begehren initiierte, den Entscheid.

 

Staatsanzeiger: Ist seit der Reform die Zahl der Bürgerentscheide angestiegen?

Edgar Wunder: Ja, statistisch gesehen findet in einer Kommune in Baden-Württemberg jetzt alle 44 Jahre ein Bürgerentscheid statt. Vor der Reform war es alle 77 Jahre. Die Anzahl bleibt moderat im Vergleich zu Bayern oder gar der Schweiz. Die Frage ist, welche Grundhaltung man gegenüber Bürgerentscheiden hat. Ob man diese als etwas Schreckliches ansieht oder ob man darin auch eine Chance sieht, Themen, die oft seit Jahren kontrovers diskutiert werden, zu befrieden. Meine Einschätzung ist, dass es unter den Bürgermeistern im Land beide Ansichten gibt.

 

Können Bürgerentscheide auch im Gemeinderat bestehende Blockaden auflösen?

Ja, diese Fälle gibt es. In Walheim im Kreis Ludwigsburg gab es seit Jahren eine Debatte darüber, ob entlang der Bahnlinie durch den Ort eine Lärmschutzwand gebaut werden soll - und zwar auf Kosten der Bahn. Das Argument gegen die Wand war, dass sie das Ortsbild verschandeln würde. Für die Wand sprachen Gesundheitsargumente beziehungsweise der Lärmschutz. Das Thema hat den Gemeinderat genau mittig gespalten, man hat also nichts unternommen. Der Bürgermeister hat aufgrund dieser Pattsituation einen Bürgerentscheid vorgeschlagen, im Gemeinderat dafür aber wieder keine Mehrheit bekommen. Daraufhin haben Bürger mit einem erfolgreichen Bürgerbegehren einen Bürgerentscheid angestrengt. Schlussendlich waren hier 45 Prozent für die Lärmschutzwand und 55 Prozent der Stimmberechtigten dagegen. Damit war die Angelegenheit befriedet.


Sie sagen, dass zwar im Schnitt nur vier Entscheidungen der Gemeinderäte gekippt wurden. Allerdings zählt nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität. Etwa wenn besonders wichtige Projekte verhindert werden.

Wichtig ist es vor Ort immer, sonst käme es gar nicht zu einem Bürgerentscheid beziehungsweise das Quorum bei einem Bürgerbegehren wird nicht erfüllt. Wir haben das ganze Spektrum: In Wannweil oder Ilvesheim ging es um nicht mehr als drei Häuser. In Großrinderfeld im Main-Tauber-Kreis ging es darum, über den geänderten Bebauungsplan die Größe eines Windrades zu beeinflussen. In Emmendingen ging es dagegen um einen großen Stadtteil, der gebaut werden sollte. Für große Projekte braucht es ohnehin eine breit angelegte Bürgerbeteiligung. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide können dies auch abkürzen.


Welche Funktion innerhalb der Demokratie haben Bürgerentscheide Ihrer Meinung nach?

Die Zustimmungswerte für die Demokratie und das Vertrauen in die Institutionen nimmt ab. Die Bürger glauben, dass sie wenig mitbestimmen können und „die Oberen“ sowieso machen, was sie wollen. Diese Haltung geht nur weg, wenn man Partizipation auch wirklich als Möglichkeit anbietet – gerade bei Themen, die den Leuten wichtig sind. Jemand, der selbst darüber entschieden hat, ob beispielsweise ein Wald zugebaut wird, der kann die Entscheidung vertreten. Auch wenn die Mehrheit anders abgestimmt hat als er selbst.


Der Gemeinderat ist aber dafür gewählt, sich anstelle der Bürger mit solchen Projekten zu befassen. 

Das Grundgesetz sieht ausdrücklich Abstimmungen, also direkte Demokratie, vor. Wenn nun alle 44 Jahre ein Bürgerentscheid in einer Gemeinde stattfindet, ist das ziemlich wenig. Denn Abstimmungen müssen auch geübt werden.  Der Gemeinderat wird durch die direktdemokratischen Mittel ja nicht abgeschafft. Er trifft 44 Jahre lang alle Entscheidungen, nur dann sind halt in Ausnahmefällen auch einmal die Bürger an der Reihe.


Besteht nicht die Gefahr, dass gerade meinungsstarke Bürger einen Bürgerentscheid beeinflussen?

Bei Wahlen bestimmen meinungsstarke Personen auch die Debatte. Aber am Ende entscheidet die gesamte Bürgerschaft, nicht Einzelpersonen.  Mit Partikularinteressen lässt sich die sehr hohe Abstimmungsbeteiligung bei Bürgerentscheiden nicht erklären. Sie ist mit 53 Prozent ja nicht niedriger als bei Kommunalwahlen. Der überwiegende Teil der Stimmberechtigten ist nicht persönlich betroffen, sondern sie stimmen im Sinne des Gemeinwohls ab.


Sie haben nach eigener Aussage seit der Reform, rund 72 Prozent der Bürgerentscheide in Kommunen begleitet, indem Sie Verwaltungen und Bürgerinitiativen beraten haben. Wie klappt die Zusammenarbeit?

In den allermeisten Fällen ist die Zusammenarbeit sehr gut. Es gibt Fälle, in denen eine Seite nicht mit der anderen reden kann und sich völlig quer stellt. Das kann sowohl die Gemeindeverwaltung als auch die Bürgerinitiative und der Gemeinderat sein.  Es überwiegt allerdings die Bereitschaft zum Zuhören und das Ergebnis des Bürgerentscheids zu akzeptieren.


Das heißt, die meisten Bürgerentscheide befrieden die Situation tatsächlich? Ein Vorwurf lautet, dass durch die Abstimmungen oft noch mehr Öl ins Feuer gegossen würde.

Hier muss man vor und nach dem Bürgerentscheid unterscheiden. In der heißen Abstimmungsphase kann es durchaus zu emotionalen Überreaktionen kommen. Die Befriedungsfunktion misst sich aber daran, ob nach dem Bürgerentscheid die Kontroverse abnimmt. Man müsste diesen Zustand mit der Situation vergleichen, wenn es einen Bürgerentscheid nicht gegeben hätte, was zugegeben ziemlich spekulativ ist. Aus meiner Erfahrung ist es zweifellos, dass fast alle Bürgerentscheide den Konflikt beilegen. Was man mit Zahlen belegen kann, ist, dass die Reform die Anzahl der Klagen gegen Projekte drastisch reduziert hat.



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