Kretschmann als Brückenbauer unterwegs

18.10.2012 
Redaktion
 
Türkeireise des Ministerpräsidenten
Foto: ddp

Stuttgart. Es ist eine Reise der deutlichen Ansagen: Für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gehört die Türkei zu Europa, die Gastgeber werfen sich in die Brust, und Menschen,  die gutausgebildet und selbstbewusst Deutschland mangels Perspektive verlassen haben, sind unzufrieden mit bundesdeutschen  Behörden. 

„Das ärgert mich tierisch“, sagt der erfolgreiche Unternehmer mit türkischem Pass,  der in einer  ersten Runde der Diskussion mit Vertretern aus Baden-Württemberg die alte Heimat Deutschland und die neue Türkei gelobt hat. Jetzt geht es um die Visumspflicht, darum, dass seine Mitarbeiter Gefahr laufen, bei der Einreise, zum Beispiel zu einer wichtigen Messe nach Stuttgart, sogar die Eintrittskarte und ihre Barschaft vorweisen zu müssen, weil ihnen trotz ausgestelltem Visum für die Bundesrepublik Betrugsabsicht unterstellt wird. Das könne er in seiner Belegschaft nicht rechtfertigen. Er fühle sich als Brückenbauer zwischen den beiden Ländern, aber „Deutschland macht es mir wirklich nicht leicht“.

Auch der Ministerpräsident will einen statt spalten. Er spricht immer wieder von der Jahrtausende Jahre alten gemeinsamen Wurzel, von den engen wirtschaftlichen Verbindungen, von den 500.000 Menschen mit türkischen Wurzeln in Baden-Württemberg - rund die Hälfte davon auch mit deutschem Pass –, die er „als Bereicherung“ bewertet. Er will wie so viele Deutschtürken prinzipiell nicht verstehen, dass die Europäische Gemeinschaft einem Staat 1963 das ernsthafte Angebot unterbreitet, dabei zu sein, und erst 2005 tatsächlich inzwischen stockende Verhandlungen aufgenommen werden. Kretschmann streckt die Hand weit aus: Endlich müsse „die EU einen Schritt auf die Türkei zugehen und die festgefahrenen Verhandlungen wieder beleben“. Sein Wunsch sei es, dass „Baden-Württemberg als eine von vielen Brücken wirkt“. Und weiter: „Nicht obwohl, sondern weil ich Christ bin, betrachte ich die Türkei als Teil Europas.“

Eingang in die türkischen Medien, die sich mit dem Syrienkonflikt befassen, dem explodierenden Staatsdefizit oder mit dem festgefahrenen Verfassungsgebungsprozess, finden diese und andere Äußerungen nicht. Sogar die Zuhörerschaft in der ehrwürdigen Uni von Ankara schwankt zwischen  nobler Gelassenheit und an Desinteresse grenzender Zurückhaltung. Kaum Applaus, keine Dankesworte. Auch die durchaus habhaften Ergebnisse der fünf Tage blieben überschaubar – trotz der  immerhin 80 Mitreisenden mit klingenden Namen aus Wirtschaft und Wissenschaft, wie dem neuen EnBW-Chef Frank Mastiaux oder der Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Magret Wintermantel. Eine neue gemischte Kommission ist gegründet. Nach Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien will Baden-Württemberg auch mit der Türkei bilateral verhandeln, über Integration oder Bildung zum Beispiel. Die Uni Tübingen hat mit den Partnern in Ankara ein Protokoll zur verstärkten Zusammenarbeit unterschrieben. Ein Windpark-Projekt mit 22 Anlagen und einer Leistung von 50 Megawatt ist auf den Weg gebracht.  

Inzwischen glänzt die Türkei mit dem weltweit zweitgrößten Wirtschaftswachstum nach China, die marode Wirtschaft der Neunziger Jahre ist – dank engagierter Hilfe des Internationalen Währungsfonds – gesundet, die Binnenkaufkraft boomt. Allerdings gibt es inzwischen Anzeichen für eine nachlassende Dynamik, das Staatsdefizit wächst, die Inflation ist hoch, Steuer und Gebühren sind kürzlich zum Teil drastisch nach oben geschraubt worden. „Wenn die Lage sich verschlechtert, bekommen die pro-europäischen Kräfte wieder Auftrieb“, sagt einer der Gesprächspartner. Allerdings auf dem Flur, nicht während des offiziellen Teils der Begegnung und in der Hoffnung, dass sich die Regierung dann „endlich ernsthaft allen offenen Fragen stellen muss“, die mit einem EU-Beitritt verbunden wären.

Daheim in Deutschland hatte Kretschmann schon im Vorfeld seines Auftritts einige Aufregung bewirkt. Dabei hatte er bei seinem Plädoyer für das EU-Mitglied Türkei Defizite nicht ausgespart, „erhebliche Defizite in der Justiz, der Wahrung der Presse- und Meinungsfreiheit und der Einhaltung der Rechte der kurdischen Minderheit“. Auch unter Deutschen in der Türkei  haben ihm solche Aussagen einige Aufmerksamkeit beschert.  Er habe den „absolut richtigen Ton“ getroffen, sagt ein Diplomat, mit der Kritik am Reformstau ebenso wie mit dem Verweis auf die vielen Gemeinsamkeiten und dem Lob für die Entwicklung. So habe hier noch kein Deutscher geredet, „auch die Bundeskanzlerin nicht“.  So könnten „Brücken tatsächlich gebaut werden“.


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