Stuttgart. Beim Thema Inklusion und Umsetzung der der UN-Konvention stehen Land und Kommunen vor großen Herausforderungen. Allein um die Inklusion in der Schule umzusetzen muss sich Vieles an den Gebäuden, an der Lehrerausbildung und an der Art des Unterrichts verändern, macht der Landesbehindertenbeauftragte Gerd Weimer (SPD) im Interview deutlich. Den ersten Teil des Interviews lesen Sie an diesem Freitag in der Printausgabe des Staatsanzeigers.
Staatsanzeiger: Wo stehen wir beim Thema Inklusion in Baden-Württemberg?
Gerd Weimer: Wir stehen da – wie überhaupt in Deutschland – eher am Anfang.
Ein Teil des Umbaus wird die Kommunen betreffen.
Auch die Kommunen müssen ihre Hausaufgaben machen, wenn es um eine inklusive Gesellschaft geht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine 40 Prozent unserer Schulgebäude barrierefrei sind, was aber eine Voraussetzung für eine inklusive Schule ist. Auch für den öffentlichen Personennahverkehr müssen viele Baustellen bearbeitet werden, etwa wenn es um Aufzüge für die Bahnhöfe geht. Das kostet Geld, keine Frage.
Beim Thema Inklusion gibt es viele Baustellen. Doch man wird nicht alles gleichzeitig angehen können. Welche Bereiche sind aus Ihrer Sicht vorrangig?
Die Kernbereiche sind in der Koalitionsvereinbarung von Grün-Rot richtig angesprochen. Das Land Baden-Württemberg muss einen Umsetzungsplan für die UN-Konvention entwickeln mit insgesamt acht Handlungsfeldern. Diese sind Persönlichkeitsrechte, Gesundheit, Barrierefreiheit, Kultur, Freizeit und Sport, Wohnen, Arbeiten, Erziehung und Bildung. In der Koalitionsvereinbarung sind dann extra noch mal drei besonders wichtige Handlungsfelder angesprochen. Das sind die Themen Barrierefreiheit, Komplexeinrichtungen und Wohnen sowie die schulische Inklusion.
Derzeit wird viel über Inklusion in der Schule gesprochen. Muss dazu das Schulsystem nicht massiv verändert werden?
Wir müssen Veränderungen einleiten. Wir haben im Moment neun Spezialschulen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung. Ein Land wie Norwegen kennt keine Spezialschulen. Dort werden selbst schwerst mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche in der Regelschule gut betreut. Das setzt aber voraus, dass ein gesellschaftliches Bewusstsein für eine Win-Win-Situation beim gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung vorhanden ist. Das setzt aber auch voraus, dass die Schulen barrierefrei sind, auch für Schülerinnen und Schüler mit Sinnesbehinderungen. Auch müssen die Rahmenbedingungen insgesamt in unserem Schulsystem so verändert werden, dass Lehrerinnen und Lehrer geschult sind, mit Menschen mit Behinderung umzugehen. Das setzt zugleich voraus, dass die Gruppen möglichst klein sind.
Und man auch zusätzliche Lehrer hat…
Und dass natürlich das Zwei-Lehrer-Prinzip berücksichtigt wird. Das bedeutet, dass in einer Lerngruppe mit behinderten und nicht behinderten Kindern der Fachlehrer und ein Sonderpädagoge gemeinsam die Gruppe unterrichten und betreuen. Nicht zu vergessen ist auch die schulbegleitende Assistenz. Das sind alles wichtige Einzelpunkte die die Baustelle schulische Inklusion relativ groß erscheinen lassen.
Die Bertelsmannstiftung spricht allein für Baden-Württemberg von einem Mehrbedarf von 310 Lehrern für Inklusion und zusätzlichen Kosten von 22 Millionen Euro ab dem Schuljahr 2020/21. Das ist auch eine gewaltige Summe. Die muss man stemmen können.
Die muss man stemmen können, keine Frage. Ich bin das Sprachrohr von Menschen mit Behinderung, deswegen muss ich mich auch in diesen Diskussionsprozess einbringen, dass die Finanzierung geregelt wird. Es geht darum, dass einmal die politischen Prioritäten bei der Landesregierung so gesetzt werden, dass eine inklusive Schule und eine inklusive Gesellschaft insgesamt mittelfristig selbstverständlich werden. Darüber hinaus soll sich die Landesregierung dafür einsetzen, dass unser Steuersystem insgesamt gerechter und solidarischer wird und den notorisch unterfinanzierten Ländern und Kommunen geholfen wird.
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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