„Kinder und Jugendliche sollen sich gesehen fühlen“

28.11.2012 
Redaktion
 
Interview
Foto: privat

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Freiburg. Joachim Bauer, Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut, ist derzeit als Oberarzt am Universitätsklinikum Freiburg tätig. Im Interview mit dem Staatsanzeiger spricht er über Anforderungen an Lehrer und an den Unterricht.

Wie können Lehrer und Schüler „anders normal“ sein?

Joachim Bauer: Andersartigkeit ist immer eine Herausforderung. Wenn uns Menschen begegnen, deren ethnische Zugehörigkeit oder deren körperlicher Zustand uns zunächst fremd ist, bedarf es der Möglichkeit, gemeinsam gute Erfahrungen zu machen. Wichtig ist, dass Ängste abgebaut werden, so dass Vertrauen entstehen kann. Angst kann zum einen durch Wissenvermittlung und zum anderen durch gute gemeinsame Erfahrungen abgebaut werden.

Welche Erkenntnisse liefert die Neurobiologie?

Das menschliche Gehirn hat spezielle Systeme zur Verfügung, die es uns ermöglichen, uns in andere einzufühlen und Empathie zu zeigen. Wo zu große Angst und Unsicherheit herrscht, können die neurobiologischen Empathiesysteme weniger gut oder gar nicht in Aktion treten.

Welche Vor - und Nachteile bringt die Gemeinschaftsschule mit sich?

Ein gutes Schulsystem muss zweierlei leisten: Zum einen soll es Schülerinnen und Schülern ein differenziertes Angebot machen, zum anderen darf ein Schulsystem nicht so konstruiert sein, dass sich Kinder und Jugendliche in bestimmten Teilen dieses Systems ausgegrenzt fühlen. Das Ganze ist also ein Balanceakt. Einerseits haben Kinder und Jugendliche unterschiedliche Interessen und Begabungen, denen man gerecht werden muss, andererseits müssen alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, die gleichen Chancen haben.

Sind Lehrer ausreichend vorbereitet?

Entscheidend für die Qualität des Unterrichts ist – neben der fachlichen Qualifikation – die Fähigkeit der Lehrkraft, mit Schülerinnen und Schülern eine lernförderliche Beziehung zu gestalten.

Was heißt das?

Kinder und Jugendliche sollen sich gesehen fühlen. Dazu gehört Anerkennung ebenso wie kritische Hinweise. Beziehungskompetente Lehrkräfte schauen auf den Menschen und spüren, wo das einzelne Kind oder der einzelne Jugendliche steht. Bei einer vermehrt heterogenen Schülerschaft ist dies von besonderer Bedeutung.

Die Beziehungsgestaltung spielt also eine wesentliche Rolle.

Die sogenannten Motivationssysteme im Gehirn von Schülerinnen und Schülern können nur dann aktiv werden, wenn der junge Mensch spürt, dass man auf ihn, auf seine Person schaut, wenn Kinder und Jugendliche merken, dass sie Bedeutung für ihre erwachsenen Bezugspersonen haben. Dies bedeutet nicht, „Wattepädagogik“ zu betreiben. Zu einer stimmigen Beziehung zwischen Erwachsenen und jungen Menschen gehört beides: Anerkennung und Lob, aber auch faire Kritik und angemessene Grenzsetzungen.

Was ist gute Pädagogik?

Kurz ausgedrückt: Eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und Führung, wobei Führung bedeutet, mit einer gewissen Ausstrahlung aufzutreten, zu den eigenen Werten zu stehen und von Kindern beziehungsweise Jugendlichen auch etwas Anstrengungsbereitschaft zu verlangen.

In einem Interview sagten Sie Autorität sei ein Nebenprodukt guter Pädagogik. Wie meinen Sie das?

Disziplin und Autorität sind kein Selbstzweck. Bei dem von mir persönlich geschätzten Bernhard Bueb kam das in einem seiner Bücher leider so rüber. Seit Plato und später dann seit Gregor dem Großem unterscheiden wir zwischen Haupttugenden und nachgeordneten Tugenden. Zu den Haupttugenden zählen Gerechtigkeit, Mäßigung, Mut, Wissen und Liebe. Diese Tugenden sind um ihrer selbst willen „gut“. Die nachgeordneten Tugenden, also Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und so weiter, sind nur dann „gut“, wenn sie im Dienste einer Haupttugend stehen. Wer als erziehender Erwachsener an den Haupttugenden orientiert ist, der wird - gleichsam wie ein Nebenprodukt - immer auch ein Stück Autorität ausstrahlen.

Was sollten angehende Lehrer lernen?

Fachliche Qualifikation ist wichtig, sie reicht alleine aber nicht aus. Ebenso wichtig ist, dass eine Lehrkraft auch die unverzichtbaren persönliche Voraussetzungen für den Beruf mitbringt, also Freude am gemeinsamen Tun, Liebe zu jungen Menschen, ein gewisses Maß an Selbstvertrauen, Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und eine positive Lebenseinstellung.

Woran mangelt es in der Lehrerausbildung in Baden-Württemberg?

Lehramtsstudenten und angehende Lehrkräfte müssen sich früh darin erproben können, was es heißt vor einer Klasse von jungen Leuten zu stehen, die es nicht immer gut mit einem meinen. Dafür werden Lehramtsstudenten immer noch zu wenig vorbereitet. Worauf es ankommt ist persönliches Stehvermögen, Kenntnisse in Gruppendynamik, ein wirksamer Einsatz der Körpersprache und ein guter und effektiver Umgang mit der Stimme. Auf all diesen Feldern mangelt es bei der Lehrerausbildung.

Was sagen Sie zum Thema frühkindliche Bildung?

Das ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt überhaupt. Die Feinstrukturen im Gehirn des Kindes werden durch seine soziale Umgebung geformt, und das vor allem in den ersten fünf Jahren. Anregungen und Förderung fördern die Entwicklung des Kindes, Mangel an Förderung und hoher Medienkonsum schaden dem Gehirn. Wenn ein Kind in die Grundschule eintritt, sind neurobiologisch gesehen viele Würfel schon gefallen. Kinder sollten daher ab dem etwa 18. Monat, spätestens aber ab dem dritten Lebensjahr einen Teil des Tages in Gruppen verbringen, in denen sie spielen können und körperlich wie auch geistig gefördert werden.  

Sind die Schulen im Südwesten noch zeitgemäß?

Wir sollten unsere Schulen nicht schlecht reden, so wie es kürzlich in einer Philosophen-Talkshow gemacht wurde. Das hilft niemandem. Wir haben – auch im Südwesten – eine Menge tolle Schulen und vielen hervorragende Pädagogen. Aber nichts ist so gut, dass es nicht weiter entwickelt werden müsste.


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