Wohlfahrtsverbände fordern mehr Flexibilität für die Pflege

09.11.2010 
Redaktion
 
Foto: ddp

Stuttgart. Das Landesheimgesetz ist gerade zwei Jahre alt. Doch die Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg hält es bereits wieder für reformbedürftig. Es sei zu unflexibel, um den Wünschen künftiger Wohn- und Betreuungsformen älterer Menschen gerecht zu  werden, kritisieren deren Mitgliedsverbände beim Kongress „Gut umsorgt älter werden. Perspektiven für das Leben und Wohnen im Alter“ am Dienstag in Stuttgart.

Bürokratie treibt auch in der Betreuung älterer Menschen seltsame Blüten: Agathe Müller (Name von der Redaktion geändert) ist trotz ihrer 86 Jahre ziemlich rüstig und lebt in ihrer eigenen Wohnung in einer etwas ländlichen Gegend. Ihren Haushalt versorgt die Witwe weitgehend selbständig, auch das Einkaufen klappt soweit noch ganz gut. Bloß manchmal könnte die Seniorin ein wenig Unterstützung gebrauchen – und hin und wieder ein wenig Ansprache.

In der näheren Umgebung gibt es ein Pflegeheim mit professionellen Pflegekräften. Doch deren „Nachbarschafts“- Hilfe darf die alte Dame nicht in Anspruch nehmen. Niemand würde ihr die Kosten erstatten. Stattdessen muss sie telefonisch den mobilen Pflegedienst anfordern, obwohl dieser einige Kilometer entfernt in der nächsten Stadt seine Station hat und unter Umständen mehrere Stunden benötigt, bis er Agathe Müller helfend unter die Arme greifen kann.

Entweder die mobile Pflege oder die im Heim

Nach den gesetzlichen Vorgaben gibt es in der Betreuung lediglich ein Entweder-Oder: Entweder geht Agathe Müller ins Pflegeheim und gibt ihren Haushalt auf – oder sie lässt sich konsequent mobil versorgen. Mischformen sind kaum erlaubt. Auch gutes Zureden seitens der Wohlfahrtspflege hat bislang zu keinen Veränderungen geführt.

„Wir haben gegenwärtig in Baden-Württemberg ein breites Spektrum an Angeboten in der Altenhilfen“, betont Johannes Böcker, Vorstandsvorsitzender der Liga und Diözesancaritasdirektor im Verband der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Versorgungsstrukturen seien jedoch sehr stark durch rechtliche Vorgaben geprägt. So gebe das Pflegeversicherungsgesetz und das Heimrecht die klassische, aber nach Auffassung der Lage nicht mehr zeitgemäße Trennung in ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege vor.

Die jeweiligen Rahmenverträge schrieben dabei genau vor, welche Leistungen mit welchem Personal zu erbringen seien. Solche Vorschriften verhindern wiederum, dass Agathe Müller von Pflegekräften aus dem benachbarten Heim versorgt werden darf - auch wenn dies praktischer und für den Kostenträger unterm Strich günstiger wäre.

Auch umgekehrt dürfen mobile Pflegekräfte nicht in stationären Einrichtungen bedarfsweise aushelfen. Exakte gesetzliche Vorgaben machten es Pflegeanbietern zunehmend schwer, auf Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft kundengerecht zu reagieren, stellt der Ligavorstandsvorsitzende fest.

Kritik am Gesetzgeber

Dieser Vorwurf treffe auch auf das erst im Juli 2008 in Kraft getretene Landesheimrechtsgesetz zu. Eine konzeptionelle Weiterentwicklung von Altenhilfeträgern werde mit dem aktuellen Heimrecht kaum gefördert, bedauert Johannes Böcker und wird in seiner Kritik am Gesetzgeber noch einen Ton schärfer: „Die Umsetzung innovativer Ideen oder neuer Wohn- und Betreuungsformen wird eher verhindert. Das kann nicht mehr im Sinne der älteren Menschen sein.“

Auch Manfred Schall, Referent für Altenhilfe im Diakonischen Werk Württemberg, beklagt die zu eng gesteckten Rahmenbedingungen, um als Dienstleister in der Pflegebranche unternehmerisch wirken und sich veränderten Marktbedingungen anpassen zu können: „Wir wünschen uns mehr Innovationsbereitschaft von den Behörden und Kostenträgern.“

Das Land sei in der Vergangenheit „ein Musterländle in der Entwicklung der Altenhilfe sowie der Entwicklung neuer Wohn- und Versorgungsformen für ältere Menschen“ gewesen. Auch wenn insgesamt noch immer eine gute Infrastruktur vorhanden sei, „bedeutet Stillstand in diesem Feld gleichzeitig auch Rückschritt“, so Manfred Schall.

Verschärfung der Vorschriften

Marlies Kellmayer vom Caritasverband und Liga-Vorsitzende des Ausschusses „Alter und Gesundheit“ erklärt sich die Haltung der Behörden bei der Zulassung und Überwachung innovativer Pflege- und Betreuungsformen mit der öffentlichen Diskussion um mögliche Betreuungsmissstände in Pflegeeinrichtungen. Diese hat es in der Vergangenheit wieder und wieder gegeben und sie hatten auch zu einer Verschärfung der Vorschriften geführt.

Jede Abweichung von gewohnten und abgesicherten Standards, so die mögliche Befürchtung der Aufsichtsämter, könnte unliebsame Grauzonen schaffen, in denen sich das Wohlbefinden der zu Betreuenden nicht eindeutig von Behörden kontrollieren lasse. Daher drängten sie zu Altbewährtem in der Betreuung, um im Beanstandungsfall auf der sicheren Seite zu sein. Eine solche Abwehrhaltung gäbe auch an sich erfolgversprechenden Modellprojekten kaum Chancen, irgendwann im Betreuungsalltag anzukommen. Liga-Vorstand Böcker sieht durch das Landesheimrecht sogar die „Unternehmenshoheit der Träger“ beeinträchtigt, da sich diese vorgegebenen Organisationsstrukturen unterordnen müssten.

Der Wettbewerb im Pflegebereich wächst

Die harsche Kritik der freien Wohlfahrtsverbände lässt erkennen, dass sich die traditionellen Platzhirsche im Revier der Pflegedienstleistungen im wachsenden Wettbewerb benachteiligt fühlen. Die Gesellschaft verändert sich. Die Zahl der Singlehaushalte und kinderlose Ehen steigt. Demzufolge stehen in der Zukunft weniger Familienangehörige als Pflegekräfte zur Verfügung. Dazu kommt, dass die Menschen älter werden und gleichzeitig länger fit bleiben. So lange es möglich ist, möchten sie im gewohnten häuslichen Umfeld bleiben. Pflege- und Betreuungsdienstleistungen wollen sie nach Bedarf und individuell ausgerichtet in Anspruch nehmen.

Die Generation 50plus hat andere Wünsche und Erwartungen als die heute Hochbetagten. „Als übergreifendes Leitbild für alle Wohn- und Betreuungsformen älterer Menschen kristallisiert sich immer mehr das normale private Wohnen heraus“, stellt Manfred Schall fest. Und die künftigen Rentenanwärter bereiteten sich darauf vor.

Eine alternde Gesellschaft mit einem ungebrochenen Trend zu individuellen Lebensformen sowie einer durchschnittlich guten finanziellen Absicherung auch noch im hohen Alter bringt der Pflegebranche einen wachsenden Markt. Einrichtungen, die dem Heimgesetz unterliegen, sind darauf nach Ansicht der Ligaverbände allerdings unzureichend vorbereitet, weil der Gesetzgeber zu wenig Flexibilität zulasse.

Schon Wohngruppen mit sieben pflegebedürftigen Bewohnern trifft die volle Breite des Heimgesetzes von Baden-Württemberg, die letztlich hohe Kosten nach sich ziehe. Auch aus diesem Grund gäbe es im Land sehr viel weniger Seniorenwohngemeinschaften als beispielsweise in Berlin, wo die Hürden für ein Zusammenziehen von Menschen, die der Pflege und Betreuung bedürfen, sehr viel tiefer lägen, sagt Marlies Kellmayer.

In der Branche wächst die Bedeutung des Marketings. Es ist von Kundenorientierung die Rede, vom Kundennutzen, von marktgerechten Angeboten, die nicht der Gesetzgeber allein vorgibt, sondern von der Zielgruppe auch gewünscht wird. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege plädiert dabei weniger für einen harten Wettbewerb unter den Pflegedienstleistern als vielmehr für ein Zusammenspiel der Pflegekräfte sowie ein Aufbrechen der starren Strukturen zwischen mobiler und stationärer Betreuung.

Verantwortung der Kommunen

Eine wachsende Bedeutung in der Gestaltung und Steuerung komme dabei  den Kommunen zu. „Eine wohnortnahe Versorgung, Gemeinwesenorientierung und ein Leben und Wohnen im Quartier kann nur kleinräumig gut und wirksam geplant werden“, sagt der Liga-Vorsitzende Johannes Böcker. Seine Organisation sehe sich dabei als Motor, um Entwicklungen anzustoßen, aber auch um notwendige Gesetzesnovellierungen aktiv anzugehen. Seine Hoffnung ist, dass in die geplante Verordnung, die dem Heimgesetz folgen soll, noch Korrekturen im Sinne der freien Wohlfahrtspflege einfließen werden.

Baden-Württembergs Sozialministerin Monika Stolz (CDU) erklärte unterdessen, dass gemeinsam mit den Sozialpartnern Arbeitsschutzziele für Pflegekräfte erarbeitet würden. Eines der Ziele sei es, die häufigen und schweren Muskelskelettbelastungen zu verringern. Ebenso sollen psychische Fehlbelastungen verringert und die systematische Wahrnehmung des Arbeitsschutzes in den Unternehmen gefördert werden.


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