"Mündige und selbständige Bürger muslimischen Glaubens erziehen"

28.05.2015 
Redaktion
 
Interview
Foto: privat

Foto: privat

Im Mai 2014 stimmte der Ministerrat zu, das Modellprojekt „Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg“ bis zum Schuljahr 2017/18 zu verlängern und sowie auf jährlich bis zu 20 Schulen auszuweiten. Seit Herbst 2011 werden am Zentrum für islamische Theologie der Universität Tübingen unter anderem Imame und Religionslehrer ausgebildet. Studiendekan Professor Mouez Khalfaoui, spricht über Veränderungen die er an seinem Zentrum wahrnimmt und über jene, die durch den islamischen Religionsunterricht angestoßen werden.

Staatsanzeiger.de: Herr Khalfaoui, hat ihr Zentrum unter Muslimen den gleichen Stellenwert wie bekannte muslimische Autoritäten?

Mouez Khalfaoui: Das Zentrum für islamische Theologie gibt es erst seit vier Jahren, aber zwischenzeitlich kommen Muslime direkt auf uns zu, wenn sie eine wissenschaftliche Auskunft wollen. Früher haben sie eine Fatwa, also ein islamisches Rechtsurteil eines muslimischen Großgelehrten aus dem Ausland gelesen, um zu entscheiden ob ihre Töchter am Schwimmunterricht teilnehmen oder ob Muslime und Christen untereinander heiraten dürfen. Zwischenzeitlich wenden sich immer mehr Muslime mit derartigen Fragen an uns, weil sie eine Auskunft auf wissenschaftlicher Basis haben möchten. Natürlich gibt es nach wie vor viele Muslime, die den Imam in ihrer Moschee um Rat fragen, aber hier findet ein Wandel statt, der natürlich nicht von heute auf morgen schlagartig vollzogen wird. Dabei betonen wir immer, dass wir keine Fatwa-Institution sind; wir beschränken uns lediglich auf Beratung und wissenschaftliche Erklärungen schwieriger Themen.  Davon profitieren nicht nur Muslime, sondern auch nichtmuslimische Institutionen. So haben wir zum Beispiel 2012 den Deutschen Bundestag bezüglich der Beschneidungsfrage von Knaben beraten.

Sie bilden Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht (IRU) aus, den das Kultusministerium in den nächsten Jahren weiter ausbauen will. Kann der IRU einer Radikalisierung präventiv vorbeugen und die Integration fördern? Denn die familiäre Erziehungspädagogik spielt ja ebenfalls eine Rolle.

Der IRU zielt darauf ab mündige und selbständige Bürger muslimischen Glaubens zu erziehen. Wie alle andere Fächer hat der IRU eine immanente präventive und integrative Funktion. Dies gelingt durch inhaltliche und methodische Ansätze des Unterrichts. Grundsätzlich  lernen Schülerinnen und Schüler in diesem Unterricht, wie sie negative Bilder und Haltungen ablehnen, wie sie sich als Bürger und Bürgerinnen dieser Gesellschaft einbringen können. Der IRU soll zu Lösungen gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen unserer Gesellschaft beitragen. Hierbei sind nicht nur die Probleme der Muslime gemeint, sondern der ganzen Gesellschaft, wie unter anderem Ökologie, Modernisierung, Umgang mit älteren Menschen und Arbeit.

Trägt der IRU zu der häufig geforderten Europäisierung des Islam mit Blick auf die Zukunft bei? 

Der Begriff "Europäisierung" wird oft benutzt und von manchen Muslimen auch kritisiert. Deshalb würde ich sagen, dass es sich vor allem um eine Kontextualisierung des Islam handelt. Dies stellt kein neues Phänomen in der muslimischen Kultur dar:  Seit Beginn des Islam wurden die lokalen und regionalen Unterschiede des Islam berücksichtigt. Die Anpassung mancher Aspekte der Religion an das Leben in Europa findet tagtäglich statt und nimmt unterschiedliche Formen an: Muslime in Deutschland sind an erster Stelle europäische beziehungsweise deutsche Bürger. Ihre Loyalität zum Grundgesetz steht außer Frage, die Herausforderung ist dabei wie man seinen Glauben, das heißt seine religiöse Glaubenspraxis in Einklang mit den hierzulande herrschenden Normen bringen kann. Dafür ist eine Kooperation zwischen muslimischen Organisationen und wissenschaftlichen Institutionen mit dem säkularen Staat von großer Bedeutung. Sie haben einen sehr hohen Frauenanteil unter ihren Studierenden.

Wie kommt das?

Der Anteil der Studentinnen am Zentrum für islamische Theologie in Tübingen ist in der Tat hoch. Zwischen 60 bis 70 Prozent der Studierenden sind weiblich. Das deutet auf einen Paradigmenwechsel hin, denn die islamische Theologie wurde bislang immer von Männern dominiert. Muslimische Frauen in Europa sind sehr gut ausgebildet, sie haben die Möglichkeit selbstbewusst zu sein und unter einer Vielzahl von Berufsmöglichkeiten zu wählen. Sie haben in Deutschland viele Freiheiten, auch die Freiheit ihre Religion selbstbestimmt zu leben und auch Ablehnungspositionen gegenüber bestimmten Inhalten deutlich zu machen. Ich denke, dass dies alles dazu beiträgt, dass mehr Frauen als Männer bei uns studieren.  


Kontakt

Ihre Ansprechpartnerin in der Redaktion

Redaktionsassistentin Staatsanzeiger
Doris Kugel
Telefon: 07 11.6 66 01-290
E-Mail senden

Unser Team

Ihr Kontakt zu unseren Redakteurinnen und Redakteuren

Zum Team

Praktikums-Tagebuch

Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger. 

Zum aktuellen Tagebuch

Der Kommunal-Newsletter

Wissenswertes zu kommunalpolitischen Themen für Sie als Gemeinderat/Gemeinderätin mit einem wöchentlichen Newsletter direkt in Ihr E-Mail-Postfach. Abonnieren Sie jetzt den 
Kommunal-Newsletter.

Newsletter abonnieren