"Verschwörungstheorien finden immer neue Wege, um sich zu verbreiten"

05.06.2020 
Redaktion
 
Foto: dpa/ Sebastian Gollnow

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Tübingen. Der Amerikanist Michael Butter lehrt an der Uni Tübingen. Er leitet ein internationales und interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien, an dem rund 120 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen aus 34 Staaten beteiligt sind.

Es wird in Kürze abgeschlossen. In einem Folgeprojekt untersucht er nun den Zusammenhang mit populistischen Bewegungen. Über Gefahren von Verschwörungstheorien und die Möglichkeiten sie einzudämmen sprach er mit Staatsanzeiger-Redakteur Christoph Müller.

Staatsanzeiger: Sind Sie selbst einmal einer Verschwörungstheorie aufgesessen?

Michael Butter: Ja. Vor vielen Jahren einmal, über die erste Mondlandung. Als ich 1999 in England studierte, habe ich in der Unizeitung einen Bericht gelesen, der sehr glaubhaft und schlüssig erklärt hat, warum die erste Mondlandung 1969 nicht stattgefunden hat, sondern im Fernsehstudio produziert wurde. Da war ich davon sehr überzeugt, habe umgeblättert – und dann kamen die ganzen Gegenbeweise. Das war auch das erste Mal, dass ich mit Verschwörungstheorien in Berührung gekommen bin. In der Gegenwart ist es so, dass ich tendenziell alles glaube, was mir über die Fifa erzählt wird. Wenn gesagt wird, die Fifa stecke hinter der Coronakrise, dann könnte ich mir das vorstellen (lacht).

 Stichwort Coronakrise. Wie viele Verschwörungstheorien gibt es zu Corona?

Es gibt unglaublich viele. Weil im Grunde bei Corona jetzt das passiert ist, was in den letzten Jahrzehnten schon immer wieder passiert: Dass jede neue Ereignis von Bedeutung an schon existierende Verschwörungstheorien dranerzählt wird, damit verbunden wird. Wer immer schon von die CIA hinter allem argwöhnt, denkt dann, das ist eine amerikanische Biowaffe. Wer immer schon dachte, die Chinesen wollen sich mit Lug und Trug die Welt untertan machen, für den ist es eine chinesische Biowaffe. Dann gibt es die unterschiedlichsten nationalen Versionen: In Nigeria gilt es als christliches Komplott, im Iran als zionistisches Komplott und so weiter. In den USA, wo die Opferzahlen größer sind als bei uns, oder auch in anderen europäischen Ländern, unterstellt man Bill Gates unter anderem manchmal auch, dass er die Weltbevölkerung reduzieren möchte. Während in Deutschland, wo die Opferzahlen geringer sind, sich die Varianten durchgesetzt haben. Corona diene dazu, uns die Menschen und Bürgerrechte wegzunehmen, die Grundrechte einzuschränken und einen globalen Impfzwang durchzusetzen.

Der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg warnt, dass einige Protestgruppen auf den Corona-Demonstrationen mit Verschwörungstheorien argumentieren und so den demokratischen Rechtsstaat diskreditieren. Teilen Sie diese Ansicht?

Es ist auf jeden Fall so, dass bei diesen Demonstrationen Leute dabei sind, die ein sehr problematisches Verhältnis zu unserem Staat haben. Die entweder der Überzeugung sind, dass dieser Staat seit Langem nur lügt und betrügt. Oder auch, dass er gar nicht existiert , wie die Reichsbürger sagen würden, oder nur die Marionette der USA oder irgendwelcher dunkler Eliten ist. Man sollte deren Bedeutung und Breitenwirkung allerdings nicht überschätzen. Es ist auch nicht so, dass durch Corona die Zahl derer, die solche Verschwörungstheorien glauben, jetzt sprunghaft angestiegen wäre. Das kommt einem nur so vor. Denn derzeit schaut man gerade besonders genau auf solche Leute. Insofern glaube ich nicht, dass das letztendlich eine Gefahr für die Demokratie bedeutet. Da bin ich etwas entspannter.

Gibt es im Südwesten auch eine besondere Anfälligkeit für Verschwörungstheorien? Schließlich waren zumindest anfangs in Stuttgart die Demonstrationen gegen Anti-Corona-Maßmahmen besonders gut besucht.

Ja, regionale Unterschiede scheint es zu geben. Das ist ein bisschen das Spiegelbild zu Pegida. Eine Gruppe, die sehr stark auf solchen Demonstration vertreten ist - nicht alle davon sind Verschwörungstheoretiker, aber sehr oft doch und andere sind nah dran –, das sind Impfgegner. Man kann argumentieren, dass Impfgegner im Südwesten und vielleicht auch in Berlin, wo es viele Demos gab, zahlreicher vertreten sind als in anderen Teilen der Bundesrepublik. 

 Was unterscheidet extreme Impfgegner von anderen Verschwörungstheoretikern?

Wenn sie zugleich auch Verschwörungstheoretiker sind, ist bei ihnen manches anders als bei den typischen Verschwörungstheoretikern. Normalerweise sind Verschwörungstheoretiker eher Männer als Frauen und sie sind eher unterdurchschnittlich gebildet Bei Impfverschwörungstheoretikern ist das ein bisschen anders. Viele davon sind Frauen. Und sie sind auch in akademischen Milieus stark vertreten. Die Grünen können ein Lied davon singen. Tübingen beispielsweise ist eine sehr linke Stadt mit sehr vielen Akademikern. Ich würde niemals auf dem Spielplatz das Thema Impfen ansprechen, wenn ich nicht weiß, wer um mich herum sitzt. 

 Gibt es noch andere Gründe für den vergleichsweise großen Zuspruch zu Corona-Demos in Baden-Württemberg?

Im Südwesten arbeiten auch relativ viele Menschen in kleineren Betrieben oder sind selbstständig und haben wirtschaftlich auch viel zu verlieren. Denn eines dürfen wir auch nicht vergessen. Auf den Protesten waren viele Impfgegner, Reichsbürger und Spinner, da waren Links- und Rechtsextreme, die versucht haben, das zu kapern. Aber da waren auch viele Leute, die durchaus legitime Anliegen vorgerbacht haben. Die nicht verstehen können, warum Kitas nicht mehr offen sind und sie ihre Eltern im Altersheim nicht besuchen dürfen, aber die Bundesliga wieder spielt. 

 Sie sagen legitime Anliegen. Heute sind Verschwörungstheorien, anders als in früheren Zeiten, nicht mehr salonfähig. Wird das Etikett Verschwörungstheorie nicht mitunter leichtfertig vergeben, um politische Gegner zu stigmatisieren? 

 Das wird es auf jeden Fall. Da bin ich auch etwas besorgt darüber. Das geschieht gar nicht einmal so sehr in der Berichterstattung über die Corona-Proteste in den Qualitätsmedien. Aber was manche Politiker gesagt haben, darüber war ich schon etwas erschüttert. Da wird wirklich alles in einen Topf geworfen. Und das ist genau das, was auch Verschwörungstheoretiker beklagen. Dass das Etikett einfach als Waffe benutzt wird, um unliebsame Positionen mundtot zu machen. Das sollte nicht passieren. Man sollte schon genau definieren, was man unter einer Verschwörungstheorie versteht, damit auch klar ist, wen man meint – und wen man nicht meinen sollte.

Laut Umfragen hängen in Deutschland bis zu einem Drittel der Menschen Verschwörungstheorien an. Ab wann wird eine Verschwörungstheorie gefährlich?

Da muss man differenzieren. Nicht alle Verschwörungstheorien sind gefährlich und nicht alle Verschwörungstheoretiker sind gefährlich. Auf zwei Arten können Verschwörungstheorien problematisch für Leib und Leben sein. Das eine sind medizinische Verschwörungstheorien, etwa zu Corona oder zu Aids. Wenn man glaubt, diese Krankheiten gebe es gar nicht, schützt man sich und andere nicht. Andere Verschwörungstheorien, insbesondere, wenn sie rassistisch und antisemitisch aufgeladen sind, können ein Katalysator für Radikalisierung sein und so letztendlich mit zu Gewalttaten führen. Das hat man in Halle erlebt. Und ein bisschen hat man das auch jetzt bei den Corona-Protesten gehabt. Wenn etwa ein Attila Hildmann sagt, man müsse Widerstand leisten und die Waffe in die Hand nehmen.

Können Verschwörungstheorien auch die Demokratie beschädigen?

Sie können problematisch werden, weil sie Misstrauen gegenüber dem normalen demokratischen Prozess schüren. Wenn jemand der Überzeugung ist, alle Parteien steckten eigentlich unter einer Decke und ihr Widerstreit ist nur inszeniert, Politiker seien nur Marionetten irgendwelcher dunklen Hintermänner, dann geht er entweder gar nicht mehr zur Wahl und zieht sich zurück aus dem Prozess der politischen Partizipation. Oder er stimmt für populistische Bewegungen, die in den vergangenen Jahren viel Erfolg hatten. Doch weiß man mittlerweile, dass diese Alternativen zur Lösung der Probleme auch nicht so viel beitragen.

Sie erforschen in einem neuen Projekt den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Populismus. Instrumentalisieren Populisten solche Theorien oder glauben sie das selbst?

Das ist nicht ganz so leicht zu sagen. Instrumentalisieren würde ja bedeuten, Populisten glauben das selbst nicht und bedienen das nur zynisch, weil ein Teil ihrer Anhänger daran glaubt. Es gibt aber beispielsweise Hinweise dafür, dass ein paar führende AfD-Politiker selbst Verschwörungstheorien anhängen. Sie zügeln dennoch ihre Rhetorik, um dafür nicht anfällige Mitglieder nicht zu verprellen. Eine Reihe empirischer Studien hat ergeben – weitere sind aber nötig, daher das Projekt –, dass in nahezu allen populistischen Bewegungen der Gegenwart Verschwörungstheorien vorkommen und Verschwörungstheoretiker unter den Anhängern sind. Doch sind sie in der Regel nicht in der Mehrheit. Das heißt, ein Populist muss beide Seiten bei der Stange halten, indem er entsprechende rhetorische Angebote macht. Etwa in einer grundsätzlich sachlich gehaltenen Rede an zwei, drei Stellen eine verschwörungstheoretische Zuspitzung platziert. Um den Gläubigen zu signalisieren: Ja, wir wissen Bescheid und sind auf Eurer Seite.

Sollen Facebook, Twitter und Co verpflichtet werden, Verschwörungstheorien zu löschen?

Ich bin ein starker Gegner der Löschung - ausgenommen dann, wenn ganz eindeutig gegen Gesetze verstoßen wird, etwa durch Leugnung des Holocaust. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist zu wichtig, als dass man Plattformen verpflichten sollte, Dinge zu löschen. Man steht dann immer vor dem Problem: Wo zieht man die Grenze und wer entscheidet das? Es gibt jede Menge Graubereiche. Es kann nicht jeder eine Ausbildung in verschwörungstheorischer Rhetorik machen. Das werden dann irgendwelche Algorithmen und Maschinen machen.

Was kann man dann tun?

Notwendig ist und das passiert ja schon - das war in der Coronakrise ein Fortschritt gegenüber dem Brexit und dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 -, dass solche Dinge vom Plattformbetreiber gekennzeichnet und mit Links versehen werden zu Websites, die das seriös erklären. Und Youtube zum Beispiel hat seinen Algorithmus geändert. Man kommt nicht mehr automatisch, egal wo man anfängt, bei der Autoplay-Funktion einer Verschwörungstheorie heraus. Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung. Aber niemand hat das Recht darauf, dass die eigene Meinung auch noch von anderen verbreitet wird.

Kann die Eindämmung von Verschwörungstheorien also gelingen?

Das ist fraglich. Man sieht in der Coronakrise auch, dass Verschwörungstheorien sich ebenso verhalten wie das Virus: Es ist praktisch unmöglich, sie vollständig einzudämmen. Wenn Facebook und Youtube wie beschrieben vorgehen und ihre Algorithmen ändern, dann reagieren Verschwörungstheoretiker so: Sie stellen dort nur noch einen kurzen Trailer ein, der auf ihre eigene Website verweist, wo dann das volle Programm abgespult wird. Zum anderen läuft aktuell viel über Sprachnachrichten bei Whatsapp, einer Plattform, die in den vergangenen Jahren gar nicht wichtig war, jetzt aber in den Mittelpunkt rückt. Verschwörungstheorien finden immer neue Wege, um sich zu verbreiten.

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