Friedrichshafen/Stuttgart. Der Titel ist Programm: „Aufbrechen – wie wollen wir leben?“ ist eine Veranstaltung der Stadt Friedrichshafen auf Initiative des Städtetags überschrieben, die am Donnerstag, den 24. Januar, in Friedrichshafen seine Premiere hat. Weitere Veranstaltungen in anderen Städten Baden-Württembergs sollen folgen. Es geht um bürgerschaftliches Engagement (BE), ums „Gehört werden“ des Bürgers. Mit-Initiator ist der „stern“-Journalist und Autor Rainer Nübel, der an diesem Abend auch moderierend dabei ist.
Staatsanzeiger: Sie sind ein renommierte Journalist, der üblicherweise berichtet. Jetzt werden Sie als Mitinitiator dieser Veranstaltungsreihe selbst zum Akteur. Was treibt Sie an?
Rainer Nübel: Für mich war bürgerschaftliches Engagement (BE) früher der Jugendtrainer oder Vereinsfunktionär, bis ich vor einem Jahr mit einem Pionier des bürgerschaftlichen Engagements aus Nürtingen ehrenamtlich in europäischen Ländern unterwegs war, um zu schauen, welche Facetten von BE es gibt. Das war mein Aha-Erlebnis. Wir Journalisten nehmen die Proteste der Bürger sehr stark wahr, aber dieser stille Aufbruch, dass Leute sich engagieren, das war für mich – das muss ich selbstkritisch sagen – medial nicht so interessant. Das hat sich durch diese Reise eklatant geändert. Wir müssen auch als Journalisten wieder mehr zu den Leuten gehen.
Ist ein Bürger im Kleinen für die Gesellschaft tätig, ist er bürgerschaftlich engagiert. Tritt er Politikern bei Großprojekten auf die Füße, wird er zum Wutbürger. Haben Sie den Eindruck, dass Bürgerschaftliches Engagement nur nach den Spielregeln der Politik erwünscht ist?
Ich glaube, in der Denkweise vieler Politiker ist das so. Einerseits wollen sie den engagierten Bürger, sie bauchen ihn auch, weil gerade im sozialen Bereich ohne solche Aktiven kaum mehr etwas funktioniert. Wenn der Bürger sich tatsächlich protestierend engagiert, dann hätte man ihn lieber ruhig und sehr rational. Da macht die Politik einen großen Fehler nach meiner Wahrnehmung. Aber auch wir Journalisten, weil wir eben sehr stark auf den Protest schauen, zumindest in den überregionalen Medien.
Sie plädieren für das „Gehört-werden“ des Bürgers. Politikern fällt das allgemein schwer. Jetzt ist die Veranstaltung von Stadt und Städtetag am nächsten Donnerstag genau mit diesem Motto überschrieben…
Die Wahrnehmung des Bürgers ist, dass der Politiker zwar immer von Bürgernähe spricht, aber nicht realisiert. Auf lokaler und regionaler Ebene ist zumindest der Wille, dem Bürger sein Ohr zu öffnen, stärker als in der „großen“ Politik. Die neue Landesregierung in Baden-Württemberg hat sich ja genau dieses „Gehört-werden“, den Dialog auf Augenhöhe, auf die Fahne geschrieben. Ich finde diesen Ansatz so wichtig wie notwendig. Deshalb ziehen wir die Konsequenz und gehen im Kleinen – ich will nicht die Welt verändern – den Schritt hin zu den Leuten. Aber nicht, um der Politik was Gutes zu tun. Wir wollen in dieser kostenlosen Veranstaltung eine Atmosphäre schaffen, in der Bürger über ihre eigene Befindlichkeit reden, sagen, wie sie sich die Gesellschaft von morgen vorstellen, was sie verändern wollen. Es ist soviel an Bewegung da, aber oft noch nicht artikuliert. Permanent hört man doch diesen Satz: „Es muss noch etwas anderes geben.“ Das ist eine Chance für die Gesellschaft.
Welche Bürger sollten sich angesprochen fühlen, an dieser Veranstaltung oder an den nachfolgenden in anderen Städten teilzunehmen?
Alle Interessierten sind eingeladen. Alle, die einen Sinn und die Notwendigkeit sehen, sich beim jetzigen Zustand der Gesellschaft, den man nicht so schwarz malen darf, darüber auszutauschen, wie wir leben wollen. Denn viele Menschen sehnen sich nach einer anderen, besseren, auch solidarischen Gesellschaft.
Was erwartet die Teilnehmer, und was müssen sie selbst beitragen?
Sie erwartet ein Abend, der kreativ anregend sein soll und erst einmal durch Musik und Sprachzauberei eine Atmosphäre schafft, in der das Gespräch aufgenommen wird. Im ersten Teil der Veranstaltung steht die Gesellschaft als solche im Mittelpunkt, ein gemeinsames Nachdenken, wie wir miteinander leben wollen, wo es hingehen soll. Im zweiten Teil wollen wir nach dem Prinzip „Schimpfen – Spinnen – Schaffen“ das auf die lokale Gesellschaft vor Ort übertragen. Da müssen nicht sofort konkrete Projekte eingeläutet werden. Es geht eher ums Bewusstmachen, was die Bürger hier vor Ort brauchen. Aber auch um die Wertschätzung, was bereits alles getan wurde.
Was erhoffen Sie sich von diesem Abend?
Ich hoffe, dass die Teilnehmer eine Atmosphäre erleben, in der sie sich artikulieren möchten und am Ende eine positive Aufbruchstimmung da ist aufgrund des Bestehenden.
Wie geht es bestenfalls nach diesem Abend weiter?
Es wäre sehr schön, wenn nach diesem Abend neue Ideen gesammelt werden und mittelfristig nachhaltige Projekte daraus entstehen. Das ist auch das Anliegen der städtischen Stabsstelle für bürgerschaftliches Engagement. Wir bieten an, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu kommen, um unter anderem die Erfahrungen aus anderen Ländern zu vermitteln.
Warum wurde ausgerechnet Friedrichshafen Premierenort für diese neue Veranstaltungsreihe?
Martin Müller vom Städtetag hat bei Städten angefragt, und hier hat man sehr schnell ein Interesse an der Konzeption gefunden. Mich reizt die Stadt als solche, die unheimlich viel hat – Weltoffenheit und regionale Verbundenheit gleichermaßen zum Beispiel. Hier ist vielleicht ein Platz, wo man offener über Sehnsüchte spricht.
In Ihrem Buch „Aufbrechen: Wie Sehnsucht die Gesellschaft verändert“ appellieren Sie an die Politik, die Träume und Lebensqualität der Bürger zu einem Gradmesser für politische Entscheidungen zu machen. Wie realistisch ist das denn?
Wieder näher beim Bürger zu sein, auf dessen Stimme und Stimmung zu hören, ist ein enorm politisches Thema. Wenn die Politik und alle wichtigen gesellschaftlichen Kräfte – dazu gehören auch die Medien – nicht realisieren, dass es in diesem Land sehr viele Menschen gibt, die anders leben wollen, die nicht ohne Grund darauf verweisen, dass die Burn-out-Quote enorm angestiegen ist, dass die Pädagogen Emphatie und soziale Kompetenz bei den Jugendlichen vermissen, dass wir Jahrzehntelang wie ein Fetisch auf dieses Wirtschaftswachstum geschaut haben – wenn diese Fragen, die unheimlich viele Bürger haben, nicht von der Politik, von der Wirtschaft und den Medien beantwortet werden, dann kann es zu einem noch größeren Bruch in der Gesellschaft kommen. Dieses Projekt, das wir jetzt in Friedrichshafen starten, ist nichts anderes als eine Spiegelung dessen.
Das Gespräch führte Katy Cuko
Studierende der Hochschulen für öffentliche Verwaltung Kehl und Ludwigsburg berichten über ihr Praktikum im Rahmen des Praxisjahrs im Vertiefungsschwerpunkt Kommunalpolitik/ Führung im öffentlichen Sektor beim Staatsanzeiger.
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