Landtagswahlrecht zementiert geringen Frauenanteil

21.03.2014 
Redaktion
 
Internationaler Frauentag
Podiumsdiskussion im Landtag

Stuttgart. In keinem anderen Länderparlament sitzen anteilig so wenige Frauen wie im Landtag von Baden-Württemberg – mit 19,5 Prozent Frauenanteil unter den Abgeordneten ist der Südwesten Schlusslicht der gesamten Republik. Aber zu ändern ist das wohl nur mit einer Änderung des Landtagswahlrechts – so zumindest ist das einhellige Fazit der Veranstaltung „Typisch weiblich?! Wählen - und gewählt werden“, die anlässlich des Internationalen Frauentags am Donnerstag im Landtag abgehalten wurde.

Rund 150 Frauen und eine Handvoll Männer – darunter der FDP-Abgeordnete Jochen Haußmann als frauenpolitischer Sprecher der liberalen Sieben-Mann-Fraktion – waren gekommen, um sich  zunächst vom Heidelberger Sozialwissenschaftler Dieter Roth, Mitbegründer der Forschungsgruppe Wahlen, sowie der Frankfurter Sozialwissenschaftlerin Ina Bieber aus deren Forschung berichten zu lassen, wie Frauen einerseits wählen und wann sie andererseits gewählt werden. Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne) hatte bei der Begrüßung aber zuvor schon die Richtung der späteren Diskussion vorgegeben: „Die Repräsentanz von Frauen in politischen Gremien ist unbefriedigend und hinkt den Ansprüchen einer gerechten Demokratie, in der sich die Vielfalt der Gesellschaft spiegeln sollte, kräftig hinterher“, sagte Lösch.

Wie die Landtagsvizepräsidentin ausführte, bieten Landesfrauenräte, Einrichtungen der politischen Bildung, Parteien und Frauenbeauftragte seit fast zwei Jahrzehnten Fortbildungs- und Mentoringprogramme an mit dem Ziel, mehr Frauen für die Übernahme von Mandaten zu gewinnen. Lösch legte dar, dass sie diese Maßnahmen begrüße, fügte jedoch hinzu: „Ich bin aber gleichzeitig der festen Überzeugung, dass ohne gesetzliche Quotenvergabe keine nachhaltigen und flächendeckenden Änderungen in der Repräsentanz von Frauen in Parlamenten zu erreichen sind. Der Anteil von Frauen in der Politik muss deshalb deutlich erhöht werden.“

Geschlechtergerechte Aufstellung der Wahllisten bloß Soll-Vorschrift

Wie schwer das in der Praxis zu erreichen ist, darüber debattierten zunächst in kleiner Runde die frauenpolitischen Sprecherinnen der Fraktionen, neben Haußmann (FDP) Charlotte Schneidewind-Hartnagel (Grüne), Sabine Wölfle (SPD) und Friedlinde Gurr-Hirsch (CDU), gemeinsam mit Angelika Klingel, der Vorsitzenden des Landesfrauenrates. Kleine Schritte wurde ja bereits unternommen, wenn auch nicht bezüglich der Landtagswahlen – Lösch verwies darauf, dass Baden-Württemberg als erstes Bundesland die geschlechtergerechte Aufstellung der Wahllisten zu den Kommunalwahlen gesetzlich einfordere. Allerdings ist das nur eine Soll-Bestimmung; und wie schwer es war und ist, ausreichend Frauen zur einer Kandidatur zu bewegen, darüber berichtete Friedlinde Gurr-Hirsch, frauenpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion.

Welchen Erfolg die „Soll-Bestimmung“ letztlich hat, wird sich bei den nächsten Kommunalwahlen zeigen. Für die Landtagswahlen jedoch sehen die meisten Diskutanten schwarz. Das bestehende Wahlsystem – ein Direktkandidat pro Wahlkreis – zementiere die bestehenden Verhältnisse. Denn wo seit langen Jahren ein Mann ein Mandat innehabe und im Wahlkreis keine Unzufriedenheit bestehe, gebe es keinen Grund, ihn durch eine Frau zu ersetzen. Schneidewind-Hartnagel zweifelt: „Das soll dann der Landtag beschließen – 28 Frauen und 111 Männer, von denen dann etwa 60 ihren Wahlkreis an eine Frau verlieren würden?“  Die anschließend aufkommende Frage, was denn nun leichter zu ändern sei - das baden-württembergische Landtagswahlrecht oder das Selbstverständnis langjähriger männlicher Abgeordneter – wollte weder Haußmann noch eine der Mandatsträgerinnen beantworten.

Auch Gisela Erler (Grüne), Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, bezweifelt, dass man die Männer dazu bringen könnte, sich selbst als Mandatsträger abzuschaffen. „Das geht nur das Instrument Volksentscheid“, glaubt sie. Doch selbst, wenn die Regelungen zu einem neuen Quorum beim Volksentscheid wie geplant geändert werden, wären zu einer Änderung des Landtagswahlrechts rund eine Million Stimmen nötig. Leni Breymaier, stellvertretende SPD-Landesvorsitzende und Verdi-Bezirkschefin in Baden-Württemberg, nannte es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ein geschlechtergerechteres Wahlsystem zu etablieren. „Dafür müssen nicht nur die Frauen selbst sorgen.“ Sabine Wölfle (SPD) äußerte sogar die Meinung, dass das bestehende Wahlsystem gegen die gesetzlich garantierte Gleichberechtigung von Mann und Frau verstoße.

Anderen weichen Fördermaßnahmen für Frauen wie Mentoringprogrammen erteilten die Frauen nahezu unisono eine Absage. „Wir brauchen keine Mentoringprogramme für Frauen, und die Frauen müssen sich nicht verändern, sie sind schließlich nicht defizitär“, so Lösch. „Die Strukturen müssen verändert werden.“ Und auch Kultus-Staatssekretärin und Gewerkschafterin Marion von Wartenberg (SPD) sagte: „Wenn wir als einziges Bundesland bei der Landtagswahl kein Listensystem haben, brauchen wir uns nicht wundern. Da können wir alle anderen Maßnahmen vergessen.“

„Es geht nur über eine Veränderung des Systems“

Auf den Punkt brachte es abschließend unter großem Applaus Sozialwissenschaftler Roth, der, nach seiner Handlungsempfehlung für Baden-Württemberg gefragt, sagte: „Es geht nur über eine Veränderung des Systems.“ Die maßgeblichen Adressaten dieser Botschaft saßen an diesem Abend allerdings nicht im Landtag.


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