„Neue Schulart, kein neues Etikett“

06.09.2012 
Redaktion
 
Interview
Foto: Archiv

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Stuttgart. Kommende Woche startet die Gemeinschaftsschule. Der Staatsanzeiger sprach mit ihrem eifrigsten Verfechter, Norbert Zeller, der die gleichnamige Stabsstelle im Kultusministerium leitet.

Staatsanzeiger: 42 Schulen gehen nach den Ferien als Gemeinschaftsschule an den Start. Wie nehmen Eltern und Schüler dort dieses neue Angebot an?  

Wir haben über 2000 Schüler an diesen 42 Gemeinschaftsschulen, darunter ist übrigens eine Privatschule. Diese Schulen haben zum Teil ja schon jahrelange Erfahrungen in dem, was wir wollen: Eine Lernform, die auf das einzelne Kind zugeschnitten ist. Die Eltern haben dort also schon erfahren, wie erfolgreich dieses Unterrichtskonzept ist. Da ist es leichter gewesen, die Eltern zu gewinnen gegenüber denen, die noch nicht so weit waren. Da gab es schon einige qualitative Unterschiede. Aber alle Schulen haben die Eltern intensiv in ihr Konzept einbezogen, und das ist Voraussetzung, denn ich muss die Eltern gewinnen, die entscheiden, auf welche Schule sie ihr Kind schicken.  

An jeder Gemeinschaftsschule kommen also mindestens zwei Klassen zustanden?  

Wir sind überall zweizügig bis auf Oberkochen, die wegen ihres engagierten Schulkonzepts und einer Sondersituation in diesem Jahr mit einer Ausnahmegenehmigung als Gemeinschaftsschule starten darf.  

Das neue Schuljahr startet in Kürze. Sind Sie nervös oder ist alles gut vorbereitet?

Ich habe ein sehr gutes Gefühl. Die Schulen sind hoch motiviert und oft ja schon jahrelang auf dem Weg in Sachen gemeinsames Lernen, durften das unter den Vorgängerregierungen nur nicht. Wir haben engagierte Lehrer und Schulleitungen, ohne die gar nichts läuft. Ich bin überzeugt, dass das ein Erfolg wird.  

Wenn Sie Jemandem kurz und bündig erklären sollten, was Gemeinschaftsschule anders macht als Hauptschule, Realschule und Gymnasium...  

Die Gemeinschaftsschule ist eine neue Schulart und kein neues Etikett. Hier werden alle Bildungsstandards angeboten. Das heißt, es ist ein individualisiertes und kooperatives Lernen auf das einzelne Kind bezogen. Das arbeitet im Wesentlichen selbständig, natürlich auch mit anderen zusammen, es kriegt auch Inputs durch den Lehrer, aber es wird dort abgeholt, wo es momentan steht. Und es wird nicht nach einem ominösen Durchschnittswissen vorgegangen. Es kann also sein, dass ein Kind mit Hauptschulempfehlung kommt, aber Leistungen auf Realschul- oder Gymnasialniveau bringt, auch in einzelnen Fächern. Das Lernen ist also ein offener Prozess mit dem Ziel, dem Kind seine bestmögliche Leistung zu ermöglichen.  

Warum geht das nicht im derzeit bestehenden Schulsystem?  

Man kann in der fünften Klasse nicht sagen: Du bist Hauptschüler, du Realschüler und du Gymnasiast. Schauen Sie doch heute mal in eine Realschule. Da sitzen 30 bis zu 50 Prozent der Kinder mit einer Gymnasialempfehlung, die gar nicht das entsprechende Angebot bekommen, denn Bildungsziel ist der Realschulabschluss. Was an Leistungen darüber hinaus möglich wäre, wird nicht abgerufen. Freilich ist auch das Abitur nach dem erfolgreichen Realschulabschluss möglich, aber der Weg ist viel schwieriger und weiter.  All das ist in der Gemeinschaftsschule kein Problem mehr. Deshalb ist sie gerade für Realschulen eine große Chance, um gymnasiale Angebote machen zu können.  

Warum führt an der Einrichtung der Gemeinschaftsschule - und Sie machen sich ja schon seit Jahren dafür stark - kein Weg vorbei? Gibt es noch eine Alternative, Schule dem demografischen Wandel anzupassen?  

Bedingt durch den demografischen Wandel, also immer weniger Kinder, steht jetzt schon die Frage im Raum, wo Schulen - und ich spreche jetzt nicht über die Grundschulen - überhaupt noch bestehen bleiben können. Deswegen müssen wir schauen, dass wir nicht nur Konzentrationsprozesse in größeren Städten wie Friedrichshafen haben, sondern dass Schulen vor Ort bleiben können, allerdings mit einer tragfähigen Konzeption. Die Gemeinschaftsschule bietet eine solche an, denn dann können auch die Realschüler und Gymnasiasten am Ort bleiben. Wenn die meisten aber auswandern an die Realschule oder ans Gymnasium in der nächsten Stadt, dann ist die Schule in der Fläche bald weg. Mit einer Gemeinschaftsschule und 40 Schülern pro Jahrgang ist ein Standort gut zu erhalten.  

Hätten Sie ein Beispiel?  

Nehmen Sie Salem im Bodenseekreis. Mit dem Bildungszentrum gibt es jetzt dort eine Werkrealschule und eine Realschule. Salem würde als Gemeinschaftsschule sein Angebot ausbauen und sogar so viele Schüler haben, dass man die gymnasiale Oberstufe und somit alle Abschlüsse anbieten könnte. Jetzt gehen die Gymnasiasten nach Markdorf oder Überlingen. Viele Gemeinden könnten auf diese Weise ihre Schule halten, auch wenn nicht überall die gymnasiale Oberstufe möglich wäre.  

Wie groß ist das Interesse an der Gemeinschaftsschule ab 2013?  

Wir haben jetzt schon sehr viele Anfragen.  Bis zum 1. Oktober müssen die Anträge abgegeben sein, dann wird für das darauf folgende Schuljahr entschieden. Ich gehe von weit über 100 Anträgen aus. Einige Schulen sind noch nicht ganz so weit, haben aber angekündigt, 2014 mit dabei sein zu wollen. Im Übrigen wird kein Antrag abgelehnt, wenn sowohl baulich als auch von der Schülerzahl her die Voraussetzungen erfüllt sind und natürlich die pädagogische Konzeption stimmt. Dann besteht Rechtsanspruch. Dafür haben wir das Schulgesetz geändert. Es ist immer die Entscheidung des Schulträgers, und es wird niemand gezwungen. Aber das muss natürlich auch regional abgestimmt werden.  

Wie viele Gemeinschaftsschulen wird es Ihrer Meinung nach bis zum Ende dieser Legislaturperiode geben?

Viele. Diese Prognose will ich jetzt nicht wagen. Ich hoffe, dass es sehr viele sind, und zwar Schulen aller Schularten. Die Schulen, die sich jetzt einigeln und abschotten und ihre Vorurteile pflegen, die werden das Nachsehen haben. Davon bin ich fest überzeugt.  

Ist dieser Prozess dann noch umkehrbar?  

Der Prozess, der mit der Änderung des Schulgesetzes angestoßen wurde, ist nicht mehr umkehrbar. Ich sage das aus voller Überzeugung, weil ich weiß, wie viele Bürgermeister jetzt schon auf mich zugekommen sind. Kommunal wird nicht mit Scheuklappen gedacht, sondern ganz pragmatisch. Da steht im Vordergrund, was gut für die eigene Gemeinde ist. Es wird sich keine Regierung, egal in welcher Konstellation, erlauben können, dieses Rad zurück zu drehen. Außerdem sind alle Bundesländer auf diesem Weg.  

Warum gibt es ausgerechnet in Ihrer Heimatstadt Friedrichshafen keine Gemeinschaftsschule im ersten Jahr, obwohl ja beispielsweise die Bodenseeschule oder die Pestalozzischule mit dem kindbezogenen Lernen schon große Erfahrungen haben?  

Ailingen wäre der ideale Standort gewesen, denn da könnte man eine gymnasiale Oberstufe anbieten. Aber da wollten das Kollegium und die Eltern nicht. Die Bodenseeschule hat noch keinen Antrag gestellt. Und die Pestalozzischule, an der ich eine Zeit lang ja selbst unterrichtet habe, arbeitet tatsächlich schon lange nach diesem Prinzip, in der Grundschule zum Beispiel mit Jahrgangsübergreifenden Klassen, ganz toll. Aber für Friedrichshafen braucht es ein Gesamtkonzept, das Realschule und Gymnasium möglicherweise an einer Gemeinschaftsschule an mehreren Standorten einbindet. Das wird meines Wissens derzeit diskutiert. Aber 2013/14 kriegen wir das nicht mehr hin. Lieber noch ein Jahr warten und dann ein gutes Konzept umsetzen, hinter dem Alle stehen.  

Vom Schulmodell zur allseits akzeptierten Schulform: Welche Aufgaben stehen noch an, um die Gemeinschaftsschule breit aufzustellen?  

Das Entscheidende ist Aufklärung, Information und Unterstützung. Wenn ich auf Veranstaltungen gehe und über die Gemeinschaftsschule berichte, da kommen Fragen, dass ich den Eindruck gewinne, wir stehen noch ganz am Anfang. Aber ich bin froh, dass die Fragen kommen, dass Skepsis geäußert wird, wie es denn gehen könne, das ein behindertes Kind und eines mit Gymnasialempfehlung zusammen lernen. Viele gehen von ihrem jetzigen Unterrichtsbild noch aus. Davon muss man sich lösen. Das versuchen wir zu vermitteln.  

Die Fragen stellte Katy Cuko


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