Christian Rauch: Wir müssen wirklich umdenken

24.10.2014 
Redaktion
 
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Stuttgart. Im zweiten Teil des Interviews spricht der Leiter der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, Christian Rauch, über unbesetzte Ausbildungsstellen, die Aufgaben der Schule bei der Vorbereitung von Jugendlichen auf die Berufwahl, Inklusion und die Frage, wie Langzeitarbeitslose wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können. Den ersten Teil des Interviews lesen Sie an diesem Freitag in der Print-Ausgabe des Staatsanzeigers.

In Baden-Württemberg sind  noch viele Ausbildungsplätze unbesetzt. Fehlen die geeigneten Bewerber oder bieten die Ausbildungsstellen zu wenig berufliche Perspektive?

Christian Rauch: Das ist eine mehr dimensionale Wahrheit. Sie haben einmal den Effekt, dass teilweise die Berufswünsche der Jugendlichen in einer Region nicht mit dem Stellenangebot zusammenpassen. Ein weiterer Effekt ist, dass in Baden-Württemberg – aufgrund des gut ausgebauten beruflichen Schulsystems verbunden mit dem Trend zu möglichst hohen Schulabschlüssen -  viele Jugendliche im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich länger im Schulsystem verweilen, bevor sie überhaupt auf den Ausbildungsmarkt kommen. Außerdem gibt es in einigen Regionen ein Spezifikum, durch das auch im Handwerk immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Dort wird das erste Ausbildungsjahr im Handwerk rein berufsfachschulisch ausgebildet. Das  hat aus Sicht des Jugendlichen zwei Nachteile:  Er bekommt für das erste Ausbildungsjahr keine Ausbildungsvergütung. Das schmälert schon mal die Attraktivität dieses Berufs. Und er bekommt auch nur einen Vorvertrag. Das heißt er hat noch keinen festen Ausbildungsvertrag. Den bekommt er erst im zweiten Jahr. So ein Spezifikum, das ich hier in Baden-Württemberg kennengelernt habe, ist aus meiner Sicht schon ein gewisser Standortnachteil fürs Handwerk.

Das heißt, Sie müssen an vielen Hebeln ansetzen, um die Ausbildungsplätze zu besetzen.

Richtig. Man muss einerseits bereits in der Schule bei den Vorstellungen der Jugendlichen von der Berufswelt ansetzen. Darüber hinaus muss man Betriebe unterstützen,  dass sie sich zutrauen, die Talente von Bewerbern zu wecken, vor denen sie heute zurückschrecken. Dazu müssen sie auch die Gewissheit haben, dass sie bei Problemen Hilfe bekommen. Und man muss auch den Blick dahin richten, ob man bei dem einen oder anderen Segment, wo wir Schwierigkeiten haben, die Ausbildungsplätze zu besetzen, an der Attraktivität der Ausbildungsplätze arbeiten muss.

Welche Aufgaben sehen Sie in Sachen Berufsbildung bei den Schulen?

Die Schule muss ein entsprechendes Berufsorientierungsangebot im Unterricht zur Verfügung stellen. Dafür sind sowohl Zeit, Angebot und ein System dahinter notwendig. Im Idealfall wird an der Schule eine Kompetenzfeststellung gemacht. Dann erhält der Schüler die Möglichkeit, Fähigkeiten auszuprobieren. Ein Beispiel, wenn ein Schüler in Richtung Metallbearbeitung gehen möchte, dann sollte er feststellen können, ob er zum Beispiel mit einer Feile umgehen kann. Sonst wäre das vielleicht die falsche Berufsrichtung. Wenn der Jugendliche dann weiß, wo seine Talente liegen, dann muss er sich einen Beruf in der betrieblichen Wirklichkeit anschauen. Das kann die Schule nicht leisten und wir auch nicht. Einen Beruf den muss man erleben, ertasten, erriechen, erfühlen. Man muss auch erleben, wie dort der Umgangston ist. Das gehört zu einem Betriebspraktikum. Und dafür muss die Schule die Zeit stellen, das System stellen und es organisieren. Dazu braucht es dann auch uns und die Betriebe als Partner.

Baden-Württemberg hat trotz niedriger Arbeitslosigkeit auch einen hohen Anteil Langzeitarbeitsloser.

Im bundesweiten Vergleich ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Baden-Württemberg nicht so hoch. Allerdings haben wir zwischen den Landkreisen eine Spreizung von knapp unter 19 bis knapp über 40 Prozent. Das zeigt schon: Es gibt nicht die eine Strategie. Man muss sich die Ausgangslage und Struktur in der jeweiligen Region anschauen. Deshalb braucht man auch verschiedene  Strategien, die jeweils auf die einzelnen Regionen passen.

Wie wollen Sie diese Menschen wieder in Arbeit bringen?

Wir wollen in den nächsten drei Jahren bei dem Thema noch mal richtig den Hebel ansetzen. Wir werden die Betreuungsintensität – also die Zeit die der Vermittler für den einzelnen hat – ausweiten, um zu sehen ob wir durch eine intensivere Betreuung und Beratung etwas verbessern können. Langzeitarbeitslosigkeit ist zu 50 Prozent auch durch fehlende Berufsabschlüsse gekennzeichnet. Deshalb wollen wir in einem zweiten Schritt, jedem der will und kann nach Möglichkeit eine für ihn passende Weiterbildung anbieten bis hin zum Berufsabschluss. Da haben wir vom Budget her keine Restriktionen. Jetzt geht es darum, finden wir Mittel und Wege die Begeisterung für die Weiterbildung auszulösen und finden wir auch für jeden das richtige Angebot. Davon verspreche ich mir schon was. Für ältere Langzeitarbeitslose wollen wir das Programm Perspektive 50 Plus, das nächstes Jahr ausläuft, noch mal nutzen. Meiner Meinung nach sind die Möglichkeiten, die in dem Programm stecken, noch nicht ausgereizt.

Welche Möglichkeiten bietet das ESF-Programm?

Das ist ein weiterer Ansatz mit bundesweit 30 000 Plätzen. Dabei können wir in weiten Teilen an die Erfahrungen vom Passiv-Aktiv-Tausch anknüpfen.  Wir wissen mittlerweile sicher, dass Betriebe, die positive Erfahrungen mit Langzeitarbeitslosen haben, auch bereit sind, weitere einzustellen. Das wollen wir mit den Programmen 50 Plus oder dem ESF-Programm unterstützen. Denn diese Programme bieten auch die entsprechenden Stützstrukturen.  Wenn uns das gelingt, haben wir eine Chance, dass der Fachkräfteengpass dazu führt, dass diese Personen stärker in den Arbeitsmarkt hineingezogen werden.

Mit welchem Zeithorizont?

Da gibt es keine kurzfristigen Erfolge. Da braucht man einen langen Atem. Potenzial bieten die 60 Prozent Betriebe, die keine Erfahrungen mit Langzeitarbeitslosen haben und meinen das funktioniere bei ihnen nicht. Da gibt es viele Stereotypen in den Köpfen, die dazu führen, dass man die letzte Hürde, es mit einem Langzeitarbeitslosen zu probieren, nicht überwindet. Von denen die Erfahrungen haben sagen 80 Prozent, dass sie es wiedermachen würden. Und von denen die keine Erfahrung haben, sagen 80 Prozent, dass sie es nicht mal probieren würden. Da muss man mit solchen ergänzenden langfristigen Strukturprogrammen ansetzen.

Eine andere Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt ist das Thema Inklusion. Der Landesbehindertenbeauftragte Gerd Weimer hat kürzlich schärfere Sanktionen für Firmen gefordert, die sich von der Pflicht, behinderte Menschen einzustellen, freikaufen. Würde Ihnen das die Vermittlung erleichtern?

Nach den Erfahrungen, die wir haben, nicht. Unsere Erfahrungen in diesem und anderen Bereichen  sind, dass man mit Sanktionen nichts erreicht. Dadurch kann die Ausgleichsabgabe steigen und in dem Topf mehr Geld zur Verfügung stehen.  Sie werden aber deswegen keinen Arbeitgeber mehr haben, der einen Schwerbehinderten beschäftigt. Das ist unsere Erfahrung aus den täglichen Beratungsgesprächen. Wir haben es eine Zeitlang mit dem Argument versucht: Sie können sich die Ausgleichsabgabe sparen, wenn Sie einen Schwerbehinderten einstellen. Das Ergebnis war faktisch gleich Null.

Welchen Weg sehen Sie dann?

Sie müssen den Arbeitgeber davon überzeugen, dass der Schwerbehinderte für ihn eine wertvolle Arbeitskraft ist und unter dem Gesichtspunkt, dass das Arbeitskräftepotenzial enger wird, immer wertvoller wird. Das ist der Hebel, wo wir ansetzen müssen. Mich hat vor kurzem ein Satz eines schwerbehinderten Kollegen sehr nachdenklich gemacht. Er hat gesagt: Wir müssen davon wegkommen, mit einem Geldkoffer zu den Arbeitgebern zu gehen und denen zu erklären, dass wir die finanziellen Nachteile ausgleichen, sondern wir müssen es besser verstehen, die Talente, die besonderen Fähigkeiten des behinderten Menschen, die genau für den Arbeitgeber interessant sind, in den Vordergrund zu stellen. Und ich glaube, da liegt der Hebel. Wir sind traditionell seit 40 Jahren auf dem Nachteilsausgleich unterwegs oder arbeiten über Sanktionen. Und wenn wir mal ehrlich sind: Das hat nicht so richtig was gebracht.  Da müssen wir wirklich umdenken.


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