Expertenanhörung der Grünen: Vielfalt ist mehr wert

12.10.2010 
Redaktion
 
Foto: ddp

Stuttgart. So manchen mag sein leidenschaftlicher Ausbruch aus der Seele gesprochen haben. „Seit Jahrzehnten machen wir filigrane, liebevolle Analysen zum Thema, drei Generationen Autoren haben sich damit beschäftigt. Dann kommt ein Herr mit Namen S. und sein Buch hat eine Million Auflage. Dass sich die Republik überhaupt darauf einlässt! Eine solche Diskussion haben wir zuvor nicht gehabt!“, echauffierte sich Jürgen Wertheimer bei der Expertenanhörung der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg.

Dorthin war der Leiter des Lehrstuhls Komparatistik/Neue deutsche Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen von Renate Rastätter, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, geladen worden, um als Referent bei der öffentlichen Anhörung „Vielfalt ist mehr wert. Interkulturelle Bildung in der Schule“ über das Projekt „Wertewelten“ zu sprechen. Dort wird in kleinen internationalen Diskussionsrunden etwa über deutsche Literatur gesprochen, Germanistikstudenten verschiedenster Nationen interpretieren Heinrich von Kleists „Michael Koolhaas“, Friedrich Schillers „Die Räuber“ oder Franz Kafkas „Prozess“.

„Alle literarischen Texte sind gut, wir lesen Sternchentexte, weil wir so nicht über das Kopftuch sprechen müssen“, so Wertheimer. Kulturelle Selbsterfahrung werde konkret an der Lektüre betrieben, ohne dass über die eigene Kindheit gesprochen werden müsse. So erfahre man anhand Interpretation des Textes nicht allein etwas über den Interpretierenden, sondern vor allem auch etwas über sich selbst. „Jeder spricht von Dialogkultur, aber es geht um die Kulturen des Dialogs, als ob Dialog immer dasselbe wäre! Es geht darum, Pluri-Identitäten zuzulassen“, so Wertheimer. „Der Kanake, um mit dem Begriff des Schriftstellers Feridun Zaimoglu zu sprechen, ist ungeheuer kreativ in seinem Sprachgebrauch. Das nehmen wir nur nicht zur Kenntnis, weil es nicht in die Schule passt.“

Sorge um Realisierung der Theorien

Denn das eine sei die Theorie, die die Teilnehmer der Anhörung gerne mit nach Hause nehmen wollten, das andere die Realität an den Schulen. Doch sobald es Richtung Abitur oder Abschlüsse ginge, seien die Schüler eingekastelt, die Fantasie dahin, weil sie Vorgaben erfüllen müssten. Deshalb und auch ob aktueller Ereignisse der Migrantendebatten sei er, trotz der langen Jahre und vielen Autoren, die sich mit dem Thema Kinder mit Migrationshintergrund und Schule beschäftigten, besorgt um die Realisierung dieser ganzen Theorien.

Was in der Realität der Schule und der Lehrerausbildung gebraucht wird, beschrieben denn auch Vittorio Lazaridis, Rektor der Berger Schule, einer Förderschule in Stuttgart-Ost, sowie Elisabeth Rangosch-Schneck, Erwachsenenpädagogin und Lehrbeauftragte den Universitäten Marburg und Tübingen. „Ein Lehrer mit Migrationshintergrund wie ich, macht per se nichts anders. Er muss zunächst ein guter Lehrer sein“, so Lazaridis. „Aber wenn er dazu seinen Hintergrund nutzen kann, ist das ein Gewinn für alle.“ Dabei brauche es zunächst einmal einen Perspektivwechsel, jemand mit anderem kulturellen Hintergrund in der Schule sei kein Problem, wie es lange gesehen wurde, sondern eine Chance. Eine Migrationsbiografie müsse als Ressource wahrgenommen werden. Dazu brauche es aber auch Wissen und Kenntnis um die Regeln, Normen und den Alltag anderer Kulturen in der Schule. „Diese Wahrnehmung für die Ressourcen solcher Menschen muss im Lehrerzimmer gefördert werden, ein Diskurs, Kommunikation entstehen“, so der studierte Politologe.

Interkulturelle Bildung für alle Lehrenden notwendig

„Professionalisierung ist angesagt, alle Lehrpersonen, gleich welcher Nation brauchen interkulturelle Bildung.“ Im Projekt „Migranten machen Schule“, das über den Stuttgarter Intergrationsbeauftragten Gari Pavkovic ins Leben gerufen wurde und an dem Lazaridis mit seiner Schule teilnahm, sei denn auch ganz praktisch ein Curriculum für Lehrerbildung entstanden, Beiträge und Beispielsammlungen, die in die Lehrerfortbildung einfließen könnten.

Auch Elisabeth Rangosch-Schneck forderte entsprechend für die Lehrerausbildung, dass in Sachen interkulturelle Bildung „explizite und implizite Gelegenheiten für nachhaltiges und expansives Lernen“ gestaltet werden müssten. So fand sie in empirischen Studien heraus, bei denen sie ihre Studierenden befragte. Will heißen, dass angehende Lehrer oder bereites Lehrende mehr Möglichkeiten erhalten, sich aktiv und theoretisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es gebe zwar in der Lehrerausbildung eine Vielzahl allerlei unterschiedlichster Module zur Interkulturalität, aber keine koheränte verbindlichen Konzepte etwa zur Sprachförderung. „Mindesten 75 Prozent der Befragten finden interkulturelle Kompetenz wichtig, in manchen Bereichen sind es sogar 90 Prozent“, so Rangosch-Schneck. „Aber  62 Prozent der Studierenden finden sich interkulturell nicht vorbereitet.“ Nachgefragt werde in Schulen lediglich Anwendungswissen, erforderlich aber sei Reflexionswissen. „Im Grunde haben wir keine Probleme mit Input, sondern mit dem, was in der Praxis wirkt“, so Rangosch-Schneck.

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