„Wenn mich einer anfasst …“

30.11.2010 
Redaktion
 
Heiner Geißlers Weg von "Kohls Kettenhund" zum Stuttgart-21-Schlichter

Stuttgart. „Wenn mich einer anfasst, dann schlage ich zurück – und wenn es ein Polizist ist, dann schlage ich zurück. Wenn ich demonstriere, dann übe ich ein Grundrecht aus, dann lasse ich mich nicht anfassen – von niemandem.“ Nein, das ist kein Ausspruch, mit dem sich Heiner Geißler in seiner Rolle als Vermittler befassen musste. Es stammt von ihm selbst und ist einer von vielen des heute 80-Jährigen, der die seltene Gabe besitzt, über den Umweg der Polarisierung zu versöhnen.

Als „anthropologischen Optimisten“ hat sich Geißler an einem der letzten Schlichtungstage bezeichnet. Und dennoch war zu spüren, wie die Lust ein wenig verloren ging. Spätestens, nachdem ihn die Landesregierung endgültig überzeugen konnte, dass ein Volksentscheid zu Stuttgart 21 rechtlich nicht in Frage kommt. Aber Geißler wäre nicht Geißler, fände er nicht doch noch eine unkonventionelle Lösung. Dafür ist er bekannt  - seit langem.

Genauso wie für seine Eigenständigkeit. Irgendwann vor gut 20 Jahren kehrte der drahtige Mann mit dem schon früh wettergegerbten Gesicht des passionierten Kletterers an eine Stätte seiner Kindheit zurück, nach Tuttlingen, zu einer Diskussion bei der Jungen Union. Mit dabei war – ausgerechnet - Winfried Kretschmann, was für Aufsehen weit über Baden-Württemberg hinaus sorgte. Ein Spitzenpolitiker der Union setzte sich an einen Tisch mit einem Grünen, maß die eigenen Argumente an denen des anderen. Und das zu einem Zeitpunkt, als sich viele in der Union noch die ganz persönliche Kontaktsperre verordnet hatten oder verordnen ließen.

Geißler nicht. Ihm war und ist ohnehin wenig zu verordnen. „Ich gebe mir selbst Halt“, sagt er vor Monaten in einem großen Zeitungsinterview, bei dem es auch um die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche geht, in der Schule von St. Blasien, die er selber besuchte. Als „einziges Vorbild“ nennt er Jesus. Der sei seiner Ideale wegen gefoltert und umgebracht worden, „er war die personifizierte Glaubwürdigkeit“. Und dann spricht er große Worte ganz gelassen aus: „Ich habe in der Politik nie gelogen.“

Aber er war ein Zuspitzer, hat aufgeregt, politische Gegner verbal zum Äußersten getrieben, etwa Willy Brandt, für den er „der schlimmste Hetzer seit Goebbels“ war. Als CDU-Generalsekretär („Kohls Kettenhund“) profilierte er sich zugleich mit ganz anderen Fähigkeiten. Auch damals, am ersten Juli-Samstag 1985, reiste er in Sasbachwalden an, um – oft beschrieben - Günther Oettinger zur Räson zu bringen, den nassforschen Landeschef der Jungen Union, der den Rücktritt des Bundeskanzlers gefordert hatte. Erwartet wurde ein Strafprediger, es kam ein standfester Verteidiger seines Herrn, der seine Kritik am unbotmäßigen Verlangen des Nachwuchspolitikers mit Beharrlichkeit und Witz vortrug – bis sich der Versammlungsraum nach und nach leerte, weil alle einem bis dahin noch weitgehend unbekannten Leimener in Wimbledon zusehen wollten.

Es gibt viele markante Sprüche, neue sind in der Schlichtung dazugekommen. Die früheren waren bissiger. Ikonen der linken Kulturszene nannte er im Deutschen Herbst 1977 „Sympathisanten des Terrors“, er verunglimpfte Pazifisten und die SPD. Das ist längst nicht mehr der Geißler von heute, der in seinen Büchern und in Talkshows mit Vehemenz Ansichten vertritt, die sonst nur von hartgesottenen Kapitalismuskritikern zu hören sind. „Er hat dazugelernt“, sagt einer, der ihn seit Jahrzehnten kennt.  Mehr noch: Peter Conradi, zwischen 1972 und 1998 im Bundestag, jetzt Partner in der Schlichtung und auch höchst unzufrieden mit der eigenen Partei,  wünscht sich einen „Geißler für die SPD“.

Ganz persönlich war die Herkules-Aufgabe, die am Ende keine Einigung bringen konnte, für Geißler  auch eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit: Geboren in Oberndorf, mit Erwin Teufel in der Jungen Union, im Donautal hat er Klettern gelernt, in Stuttgart studiert, mit der Gäubahn ist er zum Examen gefahren, auf dem Österreichischen Platz in der Landeshauptstadt hat er seinen ersten Verkehrsunfall erlebt. Und wenn er als junger Amtsrichter Anfang der Sechziger Jahre vom Gerichtsviertel zum Bahnhof strebte, kam er zwangsläufig durch den Schlossgarten. Jetzt kam er wieder - und sollte nichts Geringeres schaffen als die Wiederherstellung des inneren Friedens in einer aufgewühlten Großstadtregion. Im Unterholz widerstreitender Interessen und  Argumente fand und findet ein Mann wie er Orientierung dank der eigenen  Grundsätze. Einer davon lautet: „In einer Demokratie kann man nicht par ordre du Mufti entscheiden. Niemand ist im Besitz der absoluten Wahrheit.“


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