Wenn Wutbürger zu kreativen Bürgern werden

25.02.2011 
Redaktion
 
Lehren aus dem Streit um Stuttgart 21
Foto: Dischinger

Stuttgart. Der Begriff hat es zum Wort des Jahres 2010 geschafft: „Wutbürger“. Doch warum sind Bürger wütend? Woher kommt auf der einen Seite die neue Protestkultur, auf der anderen die viel beschworene Politikverdrossenheit? Woher kommt die Entfremdung zwischen Bürgern und Politiker, die sich exemplarisch am Großprojekt Stuttgart 21 ausmachen lässt.

Das Schlagwort heißt Bürgerbeteiligung. Doch was muss geschehen, damit diese funktioniert? Wie geht man mit der sinkenden Bereitschaft von betroffenen Bürgern, politische Beschlüsse zu akzeptieren? Wie ist es zu dieser Legitimationskrise gekommen?

Darum ging es am Donnerstag bei der Veranstaltung „Bürgerbeteiligung und Akzeptanz öffentlicher Großprojekte. Lehren aus der Vergangenheit. Lernen für die Zukunft“ im Lindenmuseum Stuttgart. Organisiert wurde es von der gemeinnützige Dialogik GmbH im Auftrag der Landesregierung.

Dialogik-Leiter Ortwin Renn, der Professor für Technik- und Umweltsoziologie an der Universität Stuttgart ist, sagte: „82 Prozent der Deutschen haben kein oder wenig Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Politiker. Das sollte zu denken geben.“ Ein Grund dafür sei, die größere Unsicherheit in einer pluralistischen Gesellschaft mit komplexeren Wirtschaftszusammenhängen, in der sich selbst Experten uneins seien.

Die Nutzen und Risiken von Planungsentscheidungen seien ungleich verteilt. In der Regel hätten einer Menge anonymer Konsumenten oder Produzenten den Nutzen, während die jeweilige Bevölkerung des Standorts das Risiko zu tragen habe. „Da werden Entscheidungen von jemand getroffen, der gar nicht vor Ort ist, unter denen aber jene vor Ort zu leiden haben“, so Renn. „Dies führt zu einer Verletzung des Fairness-Prinzips Warum soll ein Teil der Bürgerschaft Nachteile in Kauf nehmen, wenn überwiegend andere vom Nutzen profitieren?“

Expertenwissen der Menschen vor Ort zu wenig genutzt

Zu selten werde hier das lokale und regionale Wissen eingebunden. Dabei wüssten die Menschen einer Stadt am besten, wie beispielsweise bestimmte Verkehrsströme dort liefen. „Wir brauchen daher eine neue Governance Struktur: das Zusammenspiel vom Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“, so Renn. Mehr Legitimation könne mit Transparenz, Kommunikation und Rückkoppelung erreicht werde.

Was Bürgerbeteiligungen brächten, zeigten Studien vor allem aus der USA, dort habe es schon mehr solcher Verfahren gegeben. In Deutschland sind nach Renn seit 1985 bis heute lediglich 125 Verfahren im Bereich Umweltplanung durchgeführt worden. In den USA indes zeigen Untersuchungen von 850 Beteiligungsverfahren zum Bereich Umwelt und Infrastruktur, dass rund 70 Prozent davon erfolgreich waren gemessen an der Zufriedenheit der Teilnehmer und Organisatoren. Indes lasse sich nicht messen, ob dabei bessere Problemlösung gefunden worden seien.

„Man kann nicht vergleichen, was passiert wäre, wenn es anders gekommen wäre“, so Renn. Dennoch zeigten auch andere Metastudien aus den USA und Europa, dass die Erfolgsquoten von Beteiligungsverfahren bei 70 bis 85 Prozent lägen. Auch bei den vier gesamteuropäischen Dialogprojekten, die von Dialogik mit über 1200 Teilnehmern durchgeführt wurden, sei eine hohe „subjektive Zufriedenheit“ mit Werten von mehr als 87 Prozent gemessen worden.

Gesetzt den Fall, bestimmte Faktoren werden beachtet. Solche Verfahren – in welcher Form auch immer – kosten Geld und Personal, also braucht es ausreichende Ressourcen. „Es braucht ein klares Mandat und ein ausreichendes, gleichzeitig begrenztes Zeitbudget“, so Renn. Ein klares „Commitment“, also ein verbindliches Engagement der Auftraggeber muss gegeben sein und alle Beteiligten müssen mit konstruktiver Haltung die Sache angehen. Alle müssten muss die Bereitschaft mitbringen, sich gegenseitig zu respektieren und voneinander zu lernen. Dabei sollte hohe Transparenz innerhalb des Beteiligungsverfahrens und gegenüber Außenstehenden, aber geringe Medienöffentlichkeit gegeben sein. Wenn in der Presse eine Entscheidung als Schicksalsfrage der Nation gehandelt werde, betonte Renn, setze das alle zu sehr unter Druck und die Gefahr eines Gesichtsverlusts sei groß. Schließlich müssten an die jeweiligen Aufgaben angepasste Formate gefunden werden. „Wichtig ist auch, dass der Dialog ergebnisoffen geführt wird und nicht vorher schon die gewünschte Richtung festgelegt ist.“ Zudem seien alle Beteiligten über die Entscheidungen zu informieren. „Die Bürger haben Energie und Zeit aufgewendet und wollen wissen, wie  dann das Erarbeitete umgesetzt wird, sonst werden sie sich in Zukunft nicht mehr beteiligen.“


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